Frage der Woche - Archiv
Ist die MS launisch?
Die MS gilt als eine der launischsten Erkrankungen. Man sagt, das Unheimliche an ihr sei nicht nur, dass sie lautlos über Nacht kommt und die Betroffenen in einer ständigen Bedrohung leben, sondern auch, dass es keine Möglichkeit gäbe, den Verlauf der Krankheit zuverlässig einzuschätzen. Das ist ein Vorurteil aus vergangenen Zeiten. Ich werde später darauf zurückkommen. An dieser Stelle möchte ich die Gründe dafür zusammenfassen, warum uns die MS so unberechenbar erscheint, um der abergläubischen Vorstellung entgegenzutreten, die MS habe menschliche oder tierische Eigenschaften. Wenn wir uns mit den Voraussagen über den Verlauf der MS irren, liegt das an unserer Unwissenheit und nicht an einer Charakterschwäche eines unheimlichen Fabelwesens, zu dem die MS oft hochstilisiert wird.
Für die Launenhaftigkeit der MS werden gewöhnlich die folgenden fünf Argumente angeführt, die ersten drei kennen wir zwar bereits von der Besprechung des klinisch-radiologischen Paradoxons, aber ich werde sie der Vollständigkeit halber wiederholen:
- Die Zahl der Herde sagt nichts über die Behinderung aus.
- Die Zahl der Herde, die pro Jahr neu entstehen, sagt nichts über die Aggressivität der MS aus.
- Die Lokalisation der Herde sagt nichts darüber aus, ob sie zu Ausfällen führen oder nicht.
- Die Schübe treten "aus heiterem Himmel" auf.
- Die Krankheit kann weiter fortschreiten, obwohl jemand alles getan hat, sein Leben vernünftig zu gestalten.
Ich will Ihnen zeigen, warum die Argumentation irreführend sein kann. Dazu drei Beispiele:
Jemand hat ein Dutzend Herde im Gehirn, ohne jemals ein MS-Symptom verspürt zu haben, ein anderer hat einen einzigen Herd im Halsmark und ist rollstuhlabhängig. |
Erklärung: Die Herde im Gehirn liegen in sogenannten "stummen" Hirnregionen, der Rückenmarksherd an einer Stelle, wo wichtige Nervenbahnen nah beieinander verlaufen.
Ein anderer hat seit 2 Jahren eine MS und zwanzig Herde im Gehirn und seine MS verläuft anscheinend gutartig, ein anderer hat seit 1 Jahr eine MS und fünf Herde im Gehirn und seine MS ist aggressiv. Der erste scheint eine jährliche Herdproduktionsrate von 10/Jahr, der andere von 5/Jahr zu haben |
Erklärung: Wenn man genau nachfragt, ergibt sich, dass der erste schon vor 10 Jahren das erste MS-Symptom in Form einer Sehnervenentzündung gehabt hat, seine tatsächliche Herdproduktionsrate beträgt also 2/Jahr
Bei einer Patientin liegt ein Herd genau in der Capsula interna, und sie hat keine Symptome, eine andere hat einen Herd an genau derselben Stelle und ist halbseitig gelähmt. |
Erklärung: Im ersten Fall handelt es sich um einen Herd, der vollständig remyelinisiert ist, im zweiten Fall um ein "schwarzes Loch".
Eine 25-jährige Frau, bei der seit 3 Jahren eine MS bekannt ist, verliert durch einen tragischen Unfall ihr einziges Kind. Wider alles Erwarten kommt es zu keinem frischen Schub. Den erleidet sie erst ein Jahr später, anlässlich einer banalen Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter. |
Erklärung: Eine Routinekontrolle der Kernspintomographie einen Monat nach dem Tod des Kindes zeigt 3 frische Herde, die in einer "stummen" Hirnregion liegen.
Ein 30jähriger Bankkaufmann hat sein Leben nach der Diagnosestellung völlig umgestellt. Er hat das Rauchen aufgegeben, legt größten Wert auf eine gesunde Ernährung und hat seine Berufstätigkeit auf eine Zweidrittelstelle reduziert. Außerdem ist es gelungen, die vorher nicht einfache Ehesituation durch eine Paartherapie zu harmonisieren. Trotzdem schreitet seine Behinderung unablässig weiter fort. |
Auch das will in aller Bescheidenheit anerkannt werden: dass es Krankheitsverläufe gibt, die sich unserer Macht entziehen. Das hat seinen Grund in der Komplexität des Lebendigen. Wir können immer nur einige wenige Faktoren beeinflussen, den übrigen sind wir ausgeliefert. So werden wir unsere Gefährdung im Straßenverkehr ganz sicher dadurch verringern, dass wir vorsichtig fahren - und dennoch können wir das Opfer eines Unfalls werden.