Frage der Woche - Archiv
MS und Homöopathie
Meine MS begann vor 10 Jahren. In den ersten zwei Jahren hatte ich drei Schübe. Dann bin ich auf Empfehlung eines Bekannten zu einem Heilpraktiker gegangen. Der hat sich lange mit mir unterhalten und mir dann Gelsemium D6 fünf Tropfen täglich empfohlen. Seitdem bin ich schubfrei, und die Krankheit hat sich auch sonst nicht verschlechtert. Warum wird die Homöopathie von den Ärzten so schlecht gemacht? Schreiben Sie doch mal, was Sie davon halten.
Vieles in meiner 'ganzheitlichen' Einstellung zur Medizin verdanke ich meinem verehrten Lehrer Max-Otto Bruker, in dessen Klinik ich vor langen Jahren einmal arbeiten durfte, als ich vorübergehend aus der Schulmedizin ausgebrochen war. Obwohl Bruker homöopathische Medikamente verordnete, weiß ich nicht genau einzuschätzen, wie er dazu stand. Als ich ihn einmal fragte, antwortete er mir auf seine Art: "Wenn ich noch einmal geboren würde und der liebe Gott gäbe mir die Möglichkeit zwischen der Kunst der Arzneimittelkunde und der Kunst des Wortes zu wählen, ich würde mich für die letztere entscheiden." Und so war es auch. Bruker heilte durch seine Ausstrahlung und seine besondere Fähigkeit, Dinge drastisch auszudrücken. Ich erinnere mich noch daran, wie wir einmal bei einer jungen Frau Visite machten, die unter nervösen Herzbeschwerden litt, und er sie zum Fenster führte, nach unten auf den Platz vor der Klinik zeigte und sagte: "Stell dir vor, da unten fährt ein Auto im Zickzack über den Parkplatz. Was meinst du? Ist der Motor kaputt? Nein, der Fahrer ist besoffen! Und genau so ist es mit deinem Herzen. Das Steuerungssystem ist überlastet, aber das Herz selbst ist ganz in Ordnung."
Neulich sprach mich eine Patientin nach einem Vortrag an und erzählte mir über ihre Erfahrung mit der Homöopathie. Der Homöopath hatte sie lange befragt und so waren sie auch auf ihren Vater zu sprechen gekommen, der kurz nach der Flucht aus Pommern gestorben war. Sie hatte ihm unter anderem erzählt, dass sie sich damals als junges Mädchen nicht überwinden konnte, von dem Toten, der in der Friedhofskapelle aufgebahrt lag, Abschied zu nehmen. Der Arzt verordnete Natrium muriaticum in einer hohen Potenz. Das ist einfach Kochsalz und zwar so verdünnt, dass kaum mehr ein Molekül in dem Fläschchen vorhanden sein konnte. Sie nahm davon drei Tropfen zur Nacht. In der dritten Nacht träumte sie, ihr Vater sitze draußen im Garten auf der Bank, wo er immer gesessen habe. Sie ging zu ihm, sie sprachen miteinander, und sie nahm Abschied von ihm. Seitdem sei ihre MS zum Stillstand gekommen.
Ich will diese Geschichte, so anrührend sie sein mag, nicht überbewerten, aber sie bringt sehr schön zum Ausdruck, dass in der Homöopathie nicht nur das Medikament allein wirkt.
Wie wirkt die Homöopathie?
Es gibt vier Prinzipien der Arzneiwirkungen:
- Substitution (Ersatz fehlender Stoffe, z.B. bei der Eisenmangelanämie)
- Kompensation (z.B. Entlastung des Herzens durch Diuretika bei Herzinsuffizienz)
- Suppression (z.B. Unterdrückung überschießender Reaktionen durch Cortison)
- Regulation (z.B. Steuerung krankhafter Prozesse durch Hyposensibilisierung mit minimalen Allergendosen)
Die Homöopathie beschränkt sich auf die Regulation. Im lebendigen Organismus wird das Gleichgewicht der lebensnotwendigen Prozesse durch innere und äußere Reize reguliert. Wenn die Regulationsfähigkeit im kranken Organismus eingeschränkt ist, kann sie durch individuell abgestimmte Arzneien gesteuert werden. Darum ist es eine unbedingte Voraussetzung für die Homöopathie, dass die Regulationsfähigkeit des Organismus erhalten ist. Sie kann keine fehlenden Stoffe ersetzen und dekompensierte Organsysteme nicht ausgleichen. Deshalb muss der homöopathische Arzt seine Grenzen kennen und wissen, wann eine allopathische (konventionelle) Behandlung angezeigt ist.
Die Kernthese der Homöopathie lautet, dass eine geringe Menge einer Substanz genau die Krankheit heilt, die sie in größeren Mengen verursacht.
Auf den ersten Blick sieht es so einleuchtend aus, dass man einen kranken Menschen heilen will, indem man dem, was ihn krank gemacht hat, entgegenwirkt - so wie man ein Feuer mit Wasser löscht. Die Homöopathie sieht das genau anders herum. Ihr Begründer, Samuel Hahnemann, war ein Zeitgenosse Goethes. Nach seinem Medizin- und Chemiestudium eröffnete er eine Praxis für Allgemeinmedizin in Dresden und lernte den Alltag des Arztes kennen: Aderlässe, Blutegel, Schröpfköpfe, Klistiere, Brechmittel und den Gebrauch 'heroischer Arzneigemische' aus Arsen, Blei und Quecksilber. Aber er hatte nicht das Gefühl, heilen zu können. Die Nebenwirkungen übertrafen die Erfolge. Als er Vater wurde und seine Kinder durch ernsthafte Erkrankungen bedroht wurden, musste er die quälende Erfahrung machen, ihnen nicht helfen zu können, wurde von Skrupeln geplagt und gab seine Praxis auf.
In dieser Zeit entwickelte er die Homöopathie aus einer einfachen Überlegung. Das Ungleichgewicht ist nicht das Wesen der Krankheit, sondern bereits ein Gegensteuern des Körpers. Da der Körper selbst bereits gegen die Krankheit kämpft, muss er in seinem Kampf unterstützt werden. Die Krankheitssymptome sind also Selbstheilungsversuche. Und wenn man es so sieht, dann ist es klar: man darf ihnen nicht entgegenwirken.
Das Besondere ist, dass nach dieser Auffassung die Krankheit nicht als ein außer Kontrolle geratener Betriebsunfall, sondern als Gesundungsprozess aufgefasst wird, der durch winzige Mengen des Stoffes, der die Krankheit ausgelöst hat, unterstützt und angeregt werden soll.
Drei Prinzipien liegen der Homöopathie zugrunde:
- Prinzip: Was eine Arznei bewirken kann, wird durch Arzneimittelprüfungen an gesunden Versuchspersonen erforscht.
- Prinzip: (Ähnlichkeitsregel): "Jedes wirksame Arzneimittel erregt im menschlichen Körper eine Art von eigener Krankheit. Man ahme die Natur nach und wende in der zu heilenden ... Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches eine andere, möglichst ähnliche künstliche Krankheit zu erregen imstande ist, und jene wird geheilt werden; similia similibus (Ähnliches durch Ähnliches)." (Hahnemann 1796)
- Prinzip: Je mehr man das Arzneimittel verdünnt, desto wirksamer ist es. Darum spricht Hahnemann auch nicht von Verdünnung, sondern Potenzierung.
Je besser ein Therapeut die Kunst der Arzneifindung beherrscht, desto größer wird der Wirkungsbereich dieser Methode.
Persönliche Anmerkung
Meine Einstellung zur Homöopathie ist zwiespältig, obwohl meine Vorfahren angesehene Homöopathen waren. Ich schätze die ärztliche Haltung, die hinter der Homöopathie steht, bin aber zu sehr Naturwissenschaftler, um die Theorie der Homöopathie akzeptieren zu können. Die Potenzierungsregel ist für unser modernes Wissen inakzeptabel, die 'Nosodenlehre' ist mir fremd und unheimlich. Ein weiterer für mich wichtiger Punkt ist, dass jeder den Boden der rationalen Argumentation verlässt, wenn er für die homöopathische Lehre eintritt. Damit schließt er sich automatisch aus dem Kreis der 'wissenschaftlichen Gemeinde' aus. Ich weiß natürlich, wie beschränkt unser Verstand ist, und ich schätze auch den Satz von Ludwig Wittgenstein: "Wenn wir alles sagen könnten, was logisch und wissenschaftlich begründbar ist, hätten wir das Wesentliche noch nicht einmal berührt." Aber wir haben nichts Besseres als unseren Verstand, um miteinander in Gedankenaustausch zu treten, darum dürfen wir uns, um die Kraft des 'Zauberrings der argumentativen Vernunft' zu erhalten, keine unlogischen oder in sich widersprüchlichen Aussagen erlauben.