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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Gibt es eine MS-Euphorie?

Das Dienstmädchen Luc erkrankte an so rätselhaften Symptomen, dass sie das Interesse ihres Dienstherrn, des berühmten Pariser Neurologen Jean Martin Charcot, erregte. Ihr Krankheitsbild wurde zur Grundlage der klassischen Erstbeschreibung der multiplen Sklerose (MS). Neben einer ungewöhnlichen Form des Zitterns und der abgehackt wirkenden Sprechweise fiel Charcot auf, dass der jungen Frau das langsame Fortschreiten der Erkrankung wenig auszumachen schien; sie war heiter, ja geradezu überschwenglich. Er fand diese seelische Eigenart so bemerkenswert, dass er sie zusammen mit dem Nystagmus, dem Intentionstremor und der skandierenden Sprache als Euphorie (schöne Stimmung) seiner berühmten MS-Trias hinzufügte.

Obwohl die Charcotsche Trias selten ist und bei weniger als 1% der Betroffenen vorkommt, hat sich bis heute die Vorstellung gehalten, MS-Kranke wiesen eine besondere Wesensart auf, die durch Sorglosigkeit, Krankheitsverdrängung und einer unerschütterlichen Begeisterung neuen Heilmethoden gegenüber gekennzeichnet sei. Hierbei handelt es sich um ein zählebiges Vorurteil, das viel zur Stigmatisierung und Diskriminierung von MS-Betroffenen beigetragen hat.

Vor allem sollte es sich als folgenschwer herausstellen, dass sich Charcot neben der MS ausgiebig mit der Hysterie beschäftigte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es noch keine strikte Trennung von körperlichen und seelischen Krankheiten, und sogar die sogenannten "hysterischen" Lähmungen wurden von Charcot keineswegs als eingebildet oder vorgetäuscht angesehen, sondern als "funktionelle" Störung aufgefaßt. Darunter verstand er eine nicht sichtbare, aber gleichwohl vorhandene Schädigung der Hirnrinde, die durch eine seelische "Erschütterung" ausgelöst wurde.

In gleicher Weise, wie für die Hysterie organische Ursachen angenommen wurden, hielt man bei der MS eine seelische Mitbeteiligung für wahrscheinlich. Charcot nahm nicht nur eine spezifische, das Auftreten der Erkrankung fördernde MS-Persönlichkeit an, sondern war auch überzeugt, dass die MS durch Kummer, Ärger und Lebenskrisen ausgelöst werde.

Hinsichtlich des organischen Pols der Euphorie gab es zwei leicht voneinander abweichende Auffassungen. Die einen vermuteten eine umschriebene Schädigung eines Hirnzentrums, das für die Kritikfähigkeit zuständig sei, die anderen faßten die "unangemessen heitere" Stimmungslage als die Folge einer diffusen Hirnschädigung durch die verstreuten MS-Herde auf.

Damit war der Hysterie-Begriff jedoch keineswegs in Vergessenheit geraten, allerdings wurde er in entscheidender Weise umgedeutet und zwar durch Charcots Schüler Sigmund Freud. Dieser lehnte die Annahme einer "unsichtbaren" organischen Schädigung bei der Hysterie ab und entwickelte seine Neurosenlehre, also das heute allgemein akzeptierte Konzept von seelischen Krankheiten, die rein seelisch bedingt sind und kein organisches Substrat haben. In der Folgezeit stellte man sich den normalen ("ausgeglichenen") Menschen als eine gesunde Mischung von vier Persönlichkeitsanteilen vor: dem Depressiven, Zwanghaften, Schizoiden und Hysterischen, während beim Neurotiker einer dieser Anteile übermäßig in den Vordergrund rücke.

In dieser Sichtweise haben Menschen mit einem dominierenden hysterischen Anteil das unstillbare Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen. Sie sind leicht zu begeistern, aber auch schnell zu enttäuschen, und sie neigen dazu, die Augen vor der rauhen Wirklichkeit zu verschließen.

Da der Laie jedoch unter einem Hysteriker etwas ganz anders versteht, nämlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet, oder sich durch körperliche Symptome wichtig machen will, bestehen somit drei verschiedene Auffassungen nebeneinander: Der Patient mit einer hysterischen Lähmung, bei dem eine schwere seelische Belastung zu einer unsichtbaren oder sichtbaren Schädigung der Hirnrinde geführt hat, das Hysterische als Persönlichkeitsstörung und der Hysteriker als eingebildeter Kranker.

Die Situation ist also verwirrend, und es hat immer wieder Ärzte gegeben, welche die Existenz sowohl einer MS-Euphorie als auch einer MS-Hysterie rundweg bestritten und beide Begriffe für Klischees hielten. Beide Eigenschaften seien nur deshalb so häufig bei MS-Kranken zu finden, weil man mit gezielter Aufmerksamkeit danach suche. Bei unvoreingenommener Betrachtungsweise seien sogar depressive Verstimmungen bei MS-Kranken wesentlich häufiger als euphorische.

Trotz dieser gelegentlich geäußerten Einwände ist die MS wie die Hysterie ein merkwürdiges Zwitterwesen zwischen körperlicher und seelischer Krankheit geblieben, was zu vielen Mißverständnissen und zu Kränkungen führt, da die Betroffenen sowohl der mißbräuchlichen Verwendung des Wortes Hysterie als auch des Wortes Euphorie ausgeliefert sind. Normale menschliche Gefühlsregungen und Stimmungsschwankungen werden vor dem Hintergrund einer fragwürdigen psychiatrischen Klassifikation gedeutet und erscheinen in einem verzerrenden Licht. Aus dieser Sicht wird die Platzangst im Kernspintomographen zu einem Beleg für eine Persönlichkeitsstörung und die Sorge, ein leichtes, früher vielleicht unbeachtet gebliebenes Kribbeln könne der Beginn eines neuen Schubes sein, zur neurotischen Überängstlichkeit. So ist der Kranke schutzlos einer unkritischen Psychologisierung ausgesetzt. Das betrifft in gleicher Weise Ärzte wie wohlmeinende Angehörige und Freunde und findet seinen Niederschlag in Äußerungen wie: "Du beschäftigst dich zu viel mit deiner Krankheit." "Man kann sich Symptome auch einbilden." "Vieles hast du dir auch selbst zuzuschreiben."

Wegen ihrer schillernden Symptomatik überrascht es nicht, dass die MS trotz der verbesserten diagnostischen Möglichkeiten noch immer die Krankheit ist, die am häufigsten als Hysterie verkannt wird. Ein prominentes Beispiel ist die Cellistin Jacqueline du Pré. Sie hatte eine geradezu klassische hysterische Persönlichkeitsstruktur und wird jedem unvergeßlich bleiben, der sie einmal auf der Bühne erlebt hat. Während ihres temperamentvollen Spiels flatterten ihr die langen blonden Haare wild um den Kopf, und manchmal verfingen sie sich sogar zwischen ihren Fingern und den Saiten ihres Instruments. Ihre eindeutigen MS-Symptome wurden vier Jahre lang als nervöse Erschöpfung bzw. neurotische Störung mißdeutet.

Ihr Problem war nicht, dass sie ihre Beschwerden übertrieb, sondern dass sie sie nicht wahrnehmen wollte und sie bagatellisierte. Von ihren Freunden wurde sie "Smiley" genannt, weil sie so gern lachte. Aber ihre Heiterkeit täuschte. Ganz allgemein wird der hysterische Mensch als ein besonders glücklicher Mensch angesehen, und diese sehr oberflächliche Einschätzung wird auch auf MS-Kranke übertragen, wie es in dem Begriff der "belle indifférence", der schönen Gleichgültigkeit, zum Ausdruck kommt. In Wirklichkeit sind sie jedoch nichts weniger als gleichgültig. Auch wenn sie ihre Diagnose noch nicht kennen, fühlen sie, dass etwas Unverständliches in ihrem Körper geschieht. Sie versuchen sich abzulenken und lachen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um nicht ständig an das denken zu müssen, was sie auf dem Grund ihrer Seele beunruhigt und quält.

Während der Begriff Hysterie dadurch verletzt, dass er widersprüchlich und abwertend gebraucht wird, liegt die Gefahr des Begriffes Euphorie darin, dass er in Fällen leichter Ausprägung nicht trennscharf ist. Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, die in Frankfurt lebende Schriftstellerin Anja Lundholm kennenzulernen. Als Halbjüdin floh sie 1938 aus Nazi-Deutschland und arbeitete in Rom im Untergrund, bis sie an die Gestapo verraten wurde. In den fünfziger Jahren erkrankte sie an einer MS. Die jetzt 83-Jährige erzählte mir scheinbar distanziert vom Freitod ihrer jüdischen Mutter, die ihren arischen Mann nach den Geschehnissen in der Reichskristallnacht durch ihre Existenz nicht weiter gefährden wollte, von der Nacht in der Todeszelle einer römischen Villa und dem frühen Tod der eigenen Kinder. Das KZ Ravensbrück habe sie nur überlebt, indem sie sich zum Clown des Lagers gemacht habe und nicht nur ihre Leidensgefährtinnen, sondern sogar die Aufseherinnen zum Lachen brachte.

Wie wenig das mit Ausblendung zu tun hatte, wurde in beklemmender Weise deutlich, als sie erzählte, wie sie einmal heimlich in die Abstellkammern ging, wo die Leichen wie Holzscheite übereinander gestapelt lagen, und sie versuchte, in ihren Gesichtern mit den offenen Mündern und fehlenden Augen etwas über das Geheimnis des Todes zu erfahren. In dieser schauerlichen Situation kam sie zu der Gewißheit, dass nichts von dem, was ein beseelter Mensch wirklich ist, sterben kann. Das, zusammen mit der Hoffnung, dass sich alles wendet, selbst das Schrecklichste, half ihr zu überleben. Lächelnd berichtete sie, wie später ein Arzt die Diagnose einer MS-Euphorie stellte.

Viele MS-Kranke befinden sich unverschuldet in einer äußerst vertrackten Situation, indem sie zwischen dem vieldeutigen Begriff der Hysterie und dem schlecht definierten Begriff der Euphorie zerrieben werden wie zwischen zwei Mühlsteinen. Zunächst wird die Diagnose lange Zeit verkannt und die Betroffenen als Hysteriker abgestempelt. Wenn die Diagnose bekannt ist und jemand nicht sichtbar behindert ist, wird sie hinter der vorgehaltenen Hand in Frage gestellt. Aber auch in Fällen, wo an der Diagnose kein Zweifel ist, und eine leichte Erschöpfbarkeit im Vordergrund steht, wird gemunkelt: "Die macht es sich aber ganz schön bequem mit ihrem bisschen MS." Bewahrt sich ein MS-Patient seine Fröhlichkeit, heißt es "MS-Euphorie", und verläuft die Krankheit bei dem einen fataler als bei dem anderen, wird spekuliert, was er wohl falsch gemacht habe. Nicht zuletzt sollten wir Ärzte uns vor Augen halten, dass es dem Laien kaum möglich ist, auseinanderzuhalten, ob die Bezeichnung "hysterisch" wissenschaftlich gemeint oder abwertend verwendet wird, und dass auch eine vorsichtige Ausdrucksweise wie "Verdacht auf leichte Minderung der Kritikfähigkeit" nicht weniger verletzend ist wie die Formulierung "Verdacht auf leichten Schwachsinn".

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