Frage der Woche - Archiv
Was ist die Feldenkrais-Methode?
Was wir auch tun, ob wir eine Scheibe Weißbrot in den Toaster schieben, Fenster putzen oder Klavier spielen, wir bewegen uns den ganzen Tag. Die meisten unserer Bewegungen sind uns so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken. Viele davon haben aber ihre Natürlichkeit und Leichtigkeit verloren, wir verkrampfen uns oder haben uns eine schlechte Haltung angewöhnt. Wenn wir uns darüber bewusst werden, wie eine Bewegung verläuft, dann werden wir auch entdecken, wie wir sie effizienter und leichter ausführen können. Das ist der Grundgedanke von Moshe Feldenkrais.
Die Feldenkrais-Methode ist für Menschen geeignet, die Interesse daran haben zu erfahren, wie ihr Körper funktioniert. Körperliche Beschwerden wie Rücken- und Gelenkschmerzen, Verspannungen und Atmungsprobleme können der Grund sein, Unterricht in der Feldenkrais-Methode zu nehmen. Aber auch Jogger, die geschmeidiger laufen wollen, Musiker, die ihre Feinmotorik verbessern wollen oder Tänzer, die ihren Körper noch besser unter Kontrolle bringen möchten, können diese Ziele mit der Feldenkrais-Methode verfolgen.
Feldenkrais ging davon aus, dass Körper und Seele eine Einheit bilden, dass der Körper auf die Seele und die Seele auf den Körper einwirkt. Wenn wir die Art, wie wir uns bewegen, verändern, wird das Auswirkungen auf unser Denken und Fühlen haben, umgekehrt werden durch unser Denken und Fühlen unsere Bewegungen beeinflusst. Er schreibt: „Wir handeln dem Bilde nach, das wir uns von uns machen. (...) Ein jeder bewegt sich, empfindet, denkt, spricht auf die ganz ihm eigene Weise, dem Bild entsprechend, das er sich im Laufe seines Lebens von sich gemacht hat. Um die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muss er das Bild von sich ändern, das er in sich trägt.“
Feldenkrais versteht seine Methode als „organisches Lernen“. Das ist zunächst einmal ein merkwürdiger Begriff. Lernen ist doch wie Denken oder Fühlen ein geistiger Prozess. Aber tatsächlich ist es ja so, dass sich in unserer Hirnrinde ständig und millionenhaft Veränderungen an den Nervenzellen und ihren Verknüpfungen untereinander abspielen. Unser Gehirn gleicht nicht einem Spiegel, in dem sich die Außenwelt abbildet, sondern eher einem Sandstrand oder dem Wüstensand, in dem jeder Windhauch und jede Welle ein charakteristisches Muster hinterlässt. Unser Gehirn befindet sich also in einem immerwährenden Umstrukturierungsprozess, den wir nicht spüren, den aber auch Hirnforscher nicht unter dem Mikroskop beobachten konnten, weil sie immer nur tote Gehirne untersuchten. Jede Beleidigung hinterlässt eine „Narbe“, aber ebenso hinterlässt jedes beglückende „unvergessliche“ Erlebnis seinen Eindruck. Wenn unser Gehirn also kein starrer Computerchip ist, sondern ein Gewebe, im dem es lebendig zugeht wie im Dschungel, dann ist es gut vorstellbar, dass wir seine Struktur durch Gedanken beeinflussen können. Das scheint eine ungeheuere Idee zu sein, die Struktur meiner Hirnrinde allein durch Denken ändern zu wollen. Aber eigentlich ist das ja genau das, was schon immer und wie selbstverständlich in unserem Gehirn abläuft. Lernen ist in diesem Sinn immer „organisches“ Lernen.
Seitdem Ramon y Cajal (spanischer Anatom) eine Methode erfand, die Hirnzellen so anzufärben, dass sie sich unter dem Mikroskop als reich verzweigte Bäume darstellen, sind wir in einem Irrtum befangen. Wir halten den starren Zauberwald, den wir unter dem Mikroskop sehen, für einen Ausschnitt aus dem wirklichen Gehirn. Aber wir mussten das Gehirn ja erst töten, bevor wir es in dünne Scheiben schneiden und anfärben konnten. Die Hirnrinde unter dem Mikroskop, die uns als erstarrter Zauberwald erscheint, gleicht dem lebendigen Gehirn wie die Eisblumen einer Sommerwiese.
Wenn wir uns unsere Augen mit mikroskopischer Schärfe ausgestattet denken und uns ein gläsernes Gehirn vorstellen, so würden wir überwältigt sein von dem wimmelnden Leben, das wir dort sähen und das eher mit einem Ameisenhaufen oder Dschungel zu vergleichen ist als mit einem Computerchip. Ständig sind Nervenzellen damit beschäftigt, fühlerartig Ärmchen in ihre Nachbarschaft auszustrecken und neue Kontakte zu knüpfen.
Die Idee ist also, durch bewusstes Training neue Verknüpfungen zwischen Hirnzellen untereinander und zwischen Hirn- und Muskelzellen herzustellen. Diese Methode kann auch bei MS-Betroffenen dazu beitragen, unterbrochene Nervenverbindungen durch Umleitungen über intakte Hirnregionen zu überbrücken. Sie setzt allerdings ein hohes Maß an Konzentration voraus und den Willen, die Fähigkeit, in sich selbst hineinzuschauen, zu erlernen.
Die Feldenkrais-Methode geht von der Annahme aus, dass das Gehirn nicht nur Impulse an die Muskeln gibt, sondern dass auch umgekehrt Bewegungen der Muskeln als Bild an das Gehirn weitergeleitet werden. Sind die physiologischen Muskelbewegungen gestört, wird ein entsprechend verzerrtes Bild an das Gehirn weitergegeben, und es entsteht ein Teufelskreis, in dem das ZNS die darauffolgenden Bewegungen mit diesem verzerrten Muster einleitet. Es geht darum, die verlorengegangenen harmonischen Bewegungsbilder im Gehirn wiederherzustellen. Voraussetzung ist äußerste Entspannung mit einer Minimierung aller äußeren Reize. Die Muskelbewegung wird bis auf eine reine Vorstellung reduziert. Auf diese Weise wird ein Maximum an Sensitivität erreicht, die es einem ermöglicht, der inneren Dynamik eines Bewegungsablaufes nachzuspüren, und so die Möglichkeit schafft wie ein Graveur mit einer Lupe, motorische Programme zu reorganisieren und zu verfeinern.
Da alle Übungen im Liegen unter Ausschluss der Schwerkraft und mit möglichst geringer Muskelanstrengung durchgeführt werden, kann die Feldenkrais-Methode für einige MS-Kranke besonders geeignet sein. Allerdings ist sie sehr anspruchsvoll und setzt eine hohe Bereitschaft zur Eigenaktivität voraus. Sie ist nicht erfolgversprechend bei Patienten, die nicht lernen, sondern behandelt werden wollen.