Frage der Woche - Archiv
Was ist eine "spastische" Lähmung?
Bevor ich das Bein beuge oder einen Finger krümme, muss ein entsprechender Befehl für diese Bewegungen in der Hirnrinde entstanden sein. Um zur Muskulatur zu gelangen, muss er zwei Nervenzellen passieren: das 1. und das 2. motorische Neuron.
Das 1. motorische Neuron ist die Pyramidenzelle, deren Ausläufer oder Axon durch das Innere des Gehirns zum Hirnstamm zieht und dort knapp oberhalb des großen Hinterhauptloches zur Gegenseite kreuzt. Aus diesem Grund ist das linke Hirn für die rechte Körperhälfte, und das rechte Hirn für die linke Körperhälfte zuständig. Schließlich endet das 1. motorische Neuron im Vorderhorn des Rückenmarks. Dort beginnt das 2. Neuron, die motorische Vorderhornzelle. Ihre Nervenfaser verlässt den Rückenmarkskanal durch das Zwischenwirbelloch und gelangt im peripheren Nerven zur Muskulatur.
Bei einer Schädigung des 1. motorischen Neurons entsteht eine spastische Lähmung, bei einer Schädigung des 2. motorischen Neurons eine schlaffe Lähmung. Die spastische Lähmung geht mit einer erhöhten Muskelanspannung einher, der Spastik. Sie beruht auf einer Übererregbarkeit des Muskels, die man auch daran erkennt, dass die Reflexe in dem gelähmten Glied gesteigert sind. Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal gewundert, dass die Reflexe in Ihrem schwachen Bein besonders lebhaft sind. Die schlaffe Lähmung führt, wie der Name schon sagt, zu einer verminderten Muskelspannung. Die Reflexe sind abgeschwächt oder erloschen.
Die spastische Lähmung ist typisch für alle Krankheiten, die das Gehirn und das Rückenmark betreffen. Neben der MS ist der Schlaganfall die häufigste Ursache. Eine schlaffe Lähmung kommt zum Beispiel beim Bandscheibenvorfall vor, wenn ein Nerv, unmittelbar nachdem er das Rückenmark verlassen hat, von Bandscheibengewebe komprimiert wird.
Viele Patienten fragen, warum die Muskulatur bei der spastischen Lähmung so "sperrig" ist? Das ist nicht ganz leicht zu erklären und auch noch nicht in den letzten Einzelheiten bekannt. Man könnte denken, im Laufe der Evolution habe das große Gehirn die Aufgabe übernommen, die Bewegungsabläufe zu programmieren, d.h. die Programme wären in der Hirnrinde oder den großen Hirnkernen gespeichert, und die Riesendatenmenge würde dann über die Pyramidenbahn ins Rückenmark transportiert, dekodiert und schließlich in der Muskulatur ausgeführt. Es ist aber nicht so. Die komplizierten Programme sind auch beim Menschen im Rückenmark gespeichert, werden also bei der MS meistens nicht geschädigt. Geschädigt wird nur der An- und Ausschalter, und das ist die Pyramidenbahn. Da die Pyramidenbahn aber zwei Anteile hat, einen großen, der die Rückenmarksprogramme hemmt, und einen kleinen, der sie anschaltet, überwiegt bei einer Schädigung die Bremserfunktion, d.h. die Muskulatur ist "eingerastet".