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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Verdacht auf MS – Wie hilfreich ist eine Liquorpunktion?

Vor einem Jahr kam eine junge Frau wegen einer Sehstörung zu mir in die Sprechstunde. Die VEP-Untersuchung bestätigte, dass sie eine Sehnervenentzündung rechts hatte. Ich veranlasste eine Kernspintomographie des Kopfes, und als sie sich einige Tage später wieder bei mir mit den Bildern vorstellte, zeigten sich auf ihnen drei typische MS-Herde in unmittelbarer Nachbarschaft zum Ventrikelsystem. Daraufhin erklärte ich ihr, dass eine Entzündung des Sehnerven immer sehr verdächtig auf eine MS sei, und dieser Verdacht sich durch den kernspintomographischen Befund weiter erhärtet hätte. Um auf Nummer Sicher zu gehen, würde ich ihr jedoch empfehlen, sich auch noch das Rückenmarkswasser untersuchen zu lassen, da bisher nur das „Multiple“ der MS, aber noch nicht der Entzündungsprozess im ZNS nachgewiesen worden sei. Dies könne am besten mit der Bestimmung der oligoklonalen Banden im Liquor geschehen.

Aber sie zögerte und stellte mir dann die etwas ungewöhnliche Frage: „Mit welcher Wahrscheinlichkeit nehmen Sie an, dass ich eine MS habe?“ Erst jetzt stellte sich heraus, dass sie trotz ihres jugendlichen Alters schon habilitiert war und an der Universität Statistik unterrichtete.

"Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf etwa 90%", antwortete ich.

"Und um wie viel Prozent wird sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, wenn die von Ihnen erwähnten Oligoklonalen in meinem Liquor positiv sind?“

"Dann ist die Diagnose praktisch gesichert."

Sie überlegte. "Wie häufig sind die Oligoklonalen bei der MS positiv?" hakte sie dann nach.

"Bei 95%."

"Woher wissen Sie das so genau?"

Jetzt bekam ich etwas Oberwasser: "Weil ich zufällig in den 80er Jahren selbst einmal eine Untersuchung zu dieser Frage durchgeführt habe. Von 100 Patienten mit klinisch sicherer MS waren die Oligoklonalen bei 95 positiv."

"Und daraus schließen Sie, wenn ich eine MS hätte, dann müssten die Oligoklonalen auch bei mir mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% positiv sein?"

"Natürlich."

"Wie lange waren die Patienten, die Sie untersucht hatten, eigentlich erkrankt?"

"Die durchschnittliche Erkrankungsdauer betrug etwa 10 Jahre. Aber warum wollen Sie das wissen?"

Sie lächelte etwas maliziös. "Weil, wenn man korrekt ist, man aus Ihren Daten nur Folgendes schließen kann: Wenn eine MS seit durchschnittlich 10 Jahren besteht, dann sind die Oligoklonalen bei 95% der Patienten positiv."

Ich schaute sie irritiert an. "Und was ist der Unterschied?"

"Der Unterschied ist, dass sich meine MS (wenn ich überhaupt eine MS habe) im Anfangsstadium befindet. Kennen Sie eine einzige Arbeit, die untersucht, wie hoch die Trefferquote der Oligoklonalen nach dem ersten (vermuteten) MS-Schub ist?"

"Nein, das allerdings nicht."

"Eine solche Untersuchung dürfte auch schwer durchzuführen sein, da sich die Diagnose ja oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten bestätigt. Eine letzte Frage: Glauben Sie, dass die Trefferquote mit der Krankheitsdauer zunimmt?"

"Das nehme ich stark an."

"Somit tappen wir völlig im Dustern, wie oft die Oligoklonalen nach dem ersten Schub positiv sind. Nehmen wir einmal großzügig an, sie seien es in den Fällen, in denen sich eine MS im Nachhinein bestätigt, in 50% (Das ist tatsächlich eine großzügige Annahme. Manche Neurologen schätzen die Quote auf weniger als 30%.). Einverstanden?"

Ich sage widerwillig: "Okay. Und jetzt?"

Sie zog ein Notizbuch heraus, zog ein paar Linien, so dass eine einfache Tabelle entstand, und kritzelte schnell ein paar Zahlen hinein.

  MS+ MS-
N = 1000 900 100
Oligoklonale - 450 90
Oligoklonale + 450 10
Tabelle 1: Unter der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer MS vor der Liquorpunktion (A-priori-Wahrscheinlichkeit) 90% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 50% der Patienten mit sicherer MS nach dem ersten Schub positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt, 450/460 = 98%.

 
Nach knapp einer Minute stellte sie fest: Nach der Liquorpunktion wird sich, falls die Oligoklonalen positiv sein sollten, die Wahrscheinlichkeit von 90 auf knapp 98% erhöhen. Und Sie meinen im Ernst, ich sollte mich wegen dieser 8% in den Rückenmarkskanal stechen lassen?“

Ich war verwirrt. "Ich muss gestehen, so habe ich das noch nie gesehen. 8 Prozent mehr Sicherheit, das scheint mir tatsächlich kein ausreichender Grund für eine immerhin nicht ganz angenehme Untersuchung zu sein. Aber wenn in Ihrem Fall eine Liquoruntersuchung diagnostisch kaum weiterhilft, gibt es dann überhaupt noch einen triftigen Grund, bei Verdacht auf MS zu punktieren?"

"Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht", sagte sie. "Ich habe nur meinen eigenen Fall durchgerechnet. Aber wir können es kurz durchchecken, fall Sie eine Viertelstunde Zeit haben."

Das Problem hatte mich gepackt. "Sie sind für heute meine letzte Patientin", sagte ich, "und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir noch etwas Nachhilfeunterricht in Statistik geben könnten. Sie sehen ja, ich habe es dringend nötig. Aber vielleicht darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee gegenüber im Alex einladen."

Wir fanden einen relativ ruhigen Platz direkt an der Glasfront. Von dort konnte man auf das bunte Gewimmel in der Fußgängerzone sehen.

"Dann schießen Sie mal los", ermunterte sie mich.

"Also, mir sind sieben typische Beispiele eingefallen."

"Dann ist es wohl am besten, wenn wir sie einzeln durchgehen, oder?"

Fall 1: Ein 30jähriger Mann wird wegen häufiger Kopfschmerzen kernspintomographisch untersucht. Völlig unerwartet findet man MS-typische Läsionen. Auf Befragen findet sich kein Hinweis auf MS-verdächtige Symptome in der Vorgeschichte. Sollte eine Liquorpunktion zur weiteren Abklärung empfohlen werden?

"Ihr Kommentar?"

"Also in diesem Beispiel sind die Herde und ihre Verteilung sehr verdächtig auf eine MS. Es könnte sich durchaus um eine MS handeln, die bisher klinisch stumm verlaufen ist. Aber nachdem Sie mich nachdenklich gemacht haben, ist es wirklich die Frage, ob man auf eine diagnostische Klärung drängen sollte. Auch wenn die Oligoklonalen positiv sein sollten, würde es mir schwer fallen, von einer MS zu sprechen. Ich denke, ich würde auf eine Liquorpunktion verzichten."

"Ganz wie Sie wollen. Der nächste Fall bitte."

Fall 2: Eine 21jährige junge Frau hat eine Schwester, bei der kürzlich eine MS diagnostiziert wurde. Sie hat zwar keine MS-Symptome, weiß aber, dass die MS familiär gehäuft auftreten kann. Das Kernspintomogramm des Kopfes ist völlig unauffällig. Sie besteht darauf, dass vorsichtshalber auch eine Liquoruntersuchung durchgeführt wird.

"Was denken Sie?"

"Hier ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt, sehr gering. Ich würde schätzen, dass sie unter 5% liegt."

"Gehen wir der Einfachheit halber von 10% aus. Dann ergibt sich das folgende Ergebnis (Tabelle 2): Die Wahrscheinlichkeit, eine MS zu haben, erhöht sich von weniger als 10% auf 36%. Ist das eine Aussage, mit der man etwas anfangen kann oder aus der sich Konsequenzen ergeben?"

"Nein, ich gebe Ihnen recht, das Ergebnis würde sie nur beunruhigen. Eine Liquorpunktion ist in diesem Fall abzulehnen."

  MS+ MS-
N = 1000 100 900
Oligoklonale - 50 810
Oligoklonale + 50 90
Tabelle 2: Unter der Annahme, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit für eine MS 10% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 50% der Patienten mit sicherer MS im Anfangsstadium positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt 50/140 = 36%.

 
"Wie lautet das nächste Beispiel?"

Fall 3: Ein 27jähriger Student leidet seit etwa einem Jahr unter gelegentlichen Schwindelanfällen und einer raschen Ermüdbarkeit, kann sich auch nicht mehr so gut auf seine Lehrbücher konzentrieren. Das Kernspintomogramm des Kopfes zeigt zwei kleine weiße Herde, von denen der Neurologe sagt, sie seien für eine MS untypisch.

"Ich bin sicher, in diesem Fall würden Sie punktieren, nicht wahr?"

"Ja. Bei dem jungen Mann schätze ich die A-priori-Wahrscheinlichkeit auf nicht höher als 30%. Hier könnte eine Liquoruntersuchung tatsächlich weiterhelfen."

"Lassen Sie uns sehen. Tabelle 3 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine MS zu haben, bei ihm durch den Nachweis von oligoklonalen Banden von 30% auf 70% steigt, ohne dass dies Konsequenzen haben würde."

  MS+ MS-
N = 1000 300 700
Oligoklonale - 150 630
Oligoklonale + 150 70
Tabelle 3: Unter der Annahme, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit für eine MS 30% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 50% der Patienten mit sicherer MS im Anfangsstadium positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt, 150/220 = knapp 70%.

 
"Das ist doch etwas!"

"Also, ich weiß nicht. Für mich würde die Diagnose nach wie vor auf wackeligen Beinen stehen. Was haben Sie noch auf Lager?"

Fall 4: Eine 35jährige Frau hat nach einer Umschulungsmaßnahme mit viel Bildschirmarbeit eine Sehnerventzündung links erlitten. Die VEP sind links eindeutig pathologisch. Das Kernspintomogramm des Kopfes ist normal.

"Beginnen Sie mit Ihrer Einschätzung", forderte sie mich auf.

"Ich schätze, das Risiko, einen zweiten Schub zu erleiden, liegt um die 50%"

Sie rechnete. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine sichere MS bekommt, würde sich durch den Nachweis oligoklonaler Banden von 50% auf 83% erhöhen (Tabelle 4). Überzeugt Sie das?"

  MS+ MS-
N = 1000 500 500
Oligoklonale - 250 450
Oligoklonale + 250 50
Tabelle 4: Unter der Annahme, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit für eine MS 50% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 50% der Patienten mit sicherer MS im Anfangsstadium positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt 250/300 = 83%.

 
"Nicht so richtig. Aber der nächste Fall ist vielleicht überzeugender."

Fall 5: Bei einer 19jährigen Bankkauffrau ist es vor einem halben Jahr zu einer Sehnerventzündung rechts gekommen. Jetzt berichtet sie über das Lhermittesche Zeichen. Das aktuelle Kernspintomogramm des Kopfes zeigt keinen pathologischen Befund.

Sie kräuselte die Nase. "Wenn ich recht informiert bin, sind die Sehnervenentzündung und das Lhermitteschen Zeichen so typische Symptome einer MS, dass, wenn sie gemeinsam auftreten, die Diagnose praktisch sicher ist. Irre ich mich? Der Nachweis oligoklonaler Banden würde sie nicht sicherer machen, und falls sie nicht nachweisbar sein sollten, auch nicht unsicherer. Man könnte sich höchstens überlegen, ob man eine Kernspintomographie der Halswirbelsäule veranlassen sollte."

"Stimmt", gab ich zu und schämte ich etwas, weil ich daran nicht gedacht hatte.

Fall 6: Bei einem 23jährigen Sacharbeiter ist nach einer Sehnerventzündung rechts mit eindeutig verlängerten VEP rechts ein Kernspintomogramm veranlasst worden, das typische MS-Herde ergab. Der Neurologe empfiehlt „der Ordnung halber“ eine Liquorpunktion.

"Ich gebe es gleich zu", sagte ich, "die Sachlage hier unterscheidet sich nicht wesentlich vom vorangehenden Fall: Ein MS-typisches Symptom und ein MS-typisches Kernspintomogramm machen die Diagnose so sicher, dass daran das Ergebnis der Liquoruntersuchung nichts ändert."

"Okay", stimmte sie zu, "und Ihr letzter Fall?"

Fall 7: Eine 50jährige Patientin klagt seit Jahren über Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. Das Kernspintomogramm zeigt relativ viele Marklagerherde, bei denen jedoch nicht sicher zu entscheiden ist, ob es sich um vaskuläre oder entzündliche Läsionen handelt. Im Nachhinein erinnert sie sich, vor 15 Jahren einmal für wenige Wochen eine Schwäche im linken Bein verspürt zu haben.

"Ihre Meinung?"

"In diesem Fall ist es schwer zu entscheiden, ob eine MS oder eine vaskuläre Enzephalopathie vorliegt."

„Wenn es sich um eine MS handelt, dann können wir davon ausgehen, dass sie länger als 10 Jahre besteht. Damit liegt die Wahrscheinlichkeit, Oligoklonale nachzuweisen, bei über 90%. Das Ergebnis der Rechnung zeigt Tabelle 5.

  MS+ MS-
N = 1000 500 500
Oligoklonale - 50 450
Oligoklonale + 450 50
Tabelle 5: Unter der Annahme, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit für eine MS 50% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 90% der Patienten mit sicherer MS und einer Krankheitsdauer von 10 Jahren und mehr positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt 450/500 = 90%.

 
"Und was meinen Sie?" fragte ich

Sie dachte nach und kam dann für mich etwas überraschend zu dem Schluss: "Ich denke, dies ist der einzige Fall, bei dem sich eine Liquorpunktion lohnen könnte."

Erst jetzt fiel mir etwas auf. "Sagen Sie einmal, ist es eigentlich korrekt, dass wir in unserer ganzen Diskussion immer von einer subjektiven Einschätzung der MS-Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind?"

"Das mag ein Makel sein, aber anders geht es nicht. Stellen wir uns einmal vor, wir gingen von einer 'objektiven' Zahl, der MS-Häufigkeit in Deutschland aus, die 1:1000 beträgt (Tabelle 6). Damit die Zahlen handlicher werden, wollen wir uns einmal vorstellen, wir würden wahllos 10.000 Menschen auf Oligoklonale untersuchen. Wenn sie bei jemandem positiv sind, wie hoch schätzen Sie sein Risiko, dass er eine MS hat?"

"Ich würde sagen Halbehalbe."

"Sie beträgt nicht mehr und nicht weniger als 1%!"

Ich bin überrascht. "Das hätte ich nicht gedacht."

"Machen Sie sich nichts daraus. Das leuchtet den meisten Menschen nicht ein, am wenigsten den Klügsten."

"Man muss also immer von einer vernünftigen Schätzung ausgehen?"

"Ja – aber die fällt ja in aller Regel, wie die von Ihnen genannten Beispiele zeigen, nicht schwer."

  MS+ MS-
N = 10000 10 9990
Oligoklonale - 5 8990
Oligoklonale + 5 1000
Tabelle 6: Unter der Annahme, dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit für eine MS 0,1% beträgt, die Oligoklonalen nur bei 50% der Patienten mit sicherer MS im Anfangsstadium positiv sind und die Oligoklonalen in 10% falsch positiv sind, beträgt die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit, dass eine MS vorliegt 1000/1005 = <1%.

 
Das Gespräch hat mich sehr nachdenklich gemacht. Tatsächlich sehe ich kaum noch einen Grund dafür, bei Verdacht auf eine MS eine Liquorpunktion zu veranlassen. Man könnte es so auf den Punkt bringen, wie es meine junge Patientin tat: „Je sicherer sich der Erfahrene ist, dass eine MS vorliegt, desto überflüssiger ist die Bestimmung der Oligoklonalen. Und je unsicherer er sich ist, desto weniger zusätzliche Klarheit schafft sie.“

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