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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Was ist das klinisch-radiologische Paradox?

Zwischen dem Bild der MS im Kernspintomogramm und dem klinischen Befund kann es manchmal große Unterschiede geben.

Anfänglich - das heißt vor mehr als 20 Jahren - nahm man an, man könne jedem Herd ein Symptom oder umgekehrt jedem Symptom einen Herd im Kernspintomogramm zuordnen. Leider hat sich das nicht bestätigt: Jemand kann ein mit Herden übersätes Gehirn haben und beschwerdefrei sein, und ein anderer ist schwer behindert, obwohl er nur ein paar Herde hat

Drei Gründe für das klinisch-radiologische Paradox:

  • Viele Herde können wenige Ausfälle machen, wenn sie in "stummen" Hirnregionen liegen.
  • Eine Art von Herden kann nahezu vollständig remyelinisieren, in anderen entstehen irreparable Defekte.
  • Da der wirkliche Erkrankungsbeginn oft nicht bekannt ist, entstehen Fehleinschätzungen der Krankheitsaktivität, d.h. der jährlichen Herdproduktionsrate.

Es gibt nur wenige Stellen im Gehirn, die verlässlich zu voraussagbaren Ausfällen führen. Ein Beispiel ist die Capsula interna. Das ist eine kleine Hirnregion, welche die Form eines Bumerangs hat. Hierhin streben fächerförmig alle Fasern, die von der motorischen Hirnrinde kommen und vereinigen sich zur Pyramidenbahn. Hier kann ein winziger Herd zu einer kompletten Halbseitenlähmung führen.

An erster Stelle ist es somit von Bedeutung, strategisch wichtige und strategisch unwichtige Lokalisationen von Herden zu unterscheiden. Ich möchte das an zwei Fällen verdeutlichen:

Im ersten Fall geht es um einen Patienten, dessen Krankheit vor acht Jahren begonnen hat und die seit zwei oder drei Jahren ins chronische Stadium eingetreten ist. Ganz genau lässt sich der Zeitpunkt nicht festlegen, aber da er noch täglich mit seinem Hund ausgeht, merkt er, dass die übliche Runde von ca. zwei Kilometern ihm immer schwerer fällt. Jetzt muss er sich zwei Mal auf eine Bank setzen, um sich auszuruhen, während er noch vor zwei Jahren in einem Rutsch durchgehen konnte.

Im zweiten Beispiel handelt es sich um einen Mann, der vor ebenfalls acht Jahren einen einzigen Schub erlitt und zwar in Form einer Schwäche in beiden Beinen, die sich nur unvollständig zurückbildete. Seit jener Zeit wird es peu à peu langsam schlechter. Die elf Stufen ins erste Stockwerk schafft er nur noch, indem er sich quasi am Geländer nach oben zieht.

Sie werden vermutlich denken: "Na gut, im ersten Fall handelt es sich um einen sekundär chronisch progredienten und im zweiten um einen primär chronisch progredienten Verlauf." Interessant wird es aber, wenn wir uns die Kernspinbilder ansehen. Das Gehirn des ersten ist mit Herden übersät. Man zählt mehr als zwei Dutzend. An manchen Stellen sind die Herde richtig zusammengeflossen wie Pocken auf der Schale einer Miesmuschel. Das Gehirn des anderen ist herdfrei. Nur im Halsmark hat er einen einzigen langgestreckten, spindelförmigen Herd.

Ändert diese Information etwas? Ich denke, ja. Es ist ein Unterschied, wenn jemand eine MS hat, die in acht Jahren zwei Dutzend Herde produziert hat, und bei einem anderen ist nur ein einziger Herd aufgetreten - ganz abgesehen von einer Einschränkung der Hirnleistungsfähigkeit, die im 2. Fall wenig wahrscheinlich ist. Man kann also sagen, die eine MS ist aktiver als die andere, wenn man das Kriterium zugrunde legt, wieviele Herde sie im Jahr erzeugt.

Trotzdem erscheint die aktivere Form klinisch "gutartiger" als die weniger aktive. Das erste klinisch-radiologische Paradox ist also, dass eine MS "an sich" gutartig sein und trotzdem zu schweren bleibenden Behinderungen führen kann.

Der zweite wichtige Grund, warum der klinische und der radiologische Befund auseinanderfallen können, ist, dass Herd nicht gleich Herd ist. Es gibt Herde, in denen der Zerstörungsprozess relativ milde abgelaufen ist, und Herde, die geradezu ausgehöhlt erscheinen, als habe man dort einen Tropfen Schwefelsäure eingebracht. Während in dem einen Fall eine Remyelinisierung möglich ist, gehen im anderen sogar die Nervenfasern zugrunde.

Es gibt noch einen dritten wichtigen Grund für das klinisch-radiologische Paradox: Meist kennen wir den wirklichen Erkrankungsbeginn nicht. Eine MS, die sich heute als Sehnervenentzündung bemerkbar macht, kann schon vor 10 Jahren mit "stummen" Herden begonnen haben. In diesem Falle könnte man aus dem Befund von 10 Herden keinesfalls schließen, dass es sich um einen relativ stürmischen Anfang handelt

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