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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Was passiert im MS-Herd?

Das Umgebungsödem

Umgebungsödem

Wenn ein MS-Herd entsteht, bildet sich um ihn herum eine entzündliche, wässerige Schwellung aus, ganz ähnlich wie bei einem Insektenstich. Man spricht auch von einem Umgebungsödem. Dieses lässt den Herd größer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Hier entfaltet Cortison seine Hauptwirkung: ähnlich wie Löschpapier oder wie ein Schwamm saugt es das Wasser aus dem geschwollenen Gewebe, und es kommt zu einer raschen Besserung, weil der Druck auf die Nerven nachlässt. Die Besserung tritt aber im Allgemeinen auch ohne die Gabe von Cortison ein, nur dauert es etwas länger. Eine mögliche Gefahr der Cortisonbehandlung besteht darin, dass die Entzündung in den Herden zwar schneller abklingt, aber nicht ausreichend abheilen kann, dass also mit Cortison behandelte Herde dazu neigen, immer wieder aktiv zu werden.

Der MS-Herd im Hirnschnitt und im Kernspintomogramm

MS-Herde

Wenn man mit bloßem Auge auf einen Hirnschnitt schaut, stellen sich die MS-Herde als anscheinend wahllos über das Gehirn verteilte rundliche graurötliche Flecken dar, deren Größe zwischen der eines Stecknadelkopfes und einer Erbse schwankt. Manchmal sind nur zwei oder drei solcher Plaques (frz. : Verhärtung, Fleck) nachweisbar, es können aber auch mehrere Dutzend sein. Der typische MS-Herd ist in Hirnschnitten bzw. im Kernspintomogramm rund oder oval, und man ist leicht versucht, sich ihn als kleinere oder größere Kugel vorzustellen. In Wirklichkeit ist er walzenförmig und umgibt wie eine Manschette eine Vene. Warum sich im Zentrum eines MS-Herdes immer eine Vene befindet, weiß niemand zu sagen. Eine andere Besonderheit betrifft die Art, wie sich die entzündliche Veränderung im Gewebe ausbreitet, nämlich wie ein Tintenklecks auf Löschpapier. Die Abbildung zeigt einen horizontalen Schnitt durch das Gehirn mit: (1) typischen runden oder ovalen Herden, (2) einem schwarzes Loch (siehe weiter unten), (3) flächenhaften Herden an den Vorder- und Hinterhörnern der Hirnkammern und (4) einen frischen "Tennisballherd".

Nicht alle Herde haben die oben beschriebene Form. Im Rückenmark sind sie häufig dreieckig, sitzen mit ihrer Basis der Außenseite des Rückenmarks auf und dringen mit der Spitze tief ins Rückenmark ein; und in der Umgebung der Hirnkammern, vor allem am Vorderhorn und am Hinterhorn der Seitenventrikel bilden sie oft symmetrische, bizarr geformte flächenhafte Veränderungen, die mit feinen Ausläufern in die weiße Hirnsubstanz ziehen. Es entsteht der Eindruck, dass hier viel kleine Herde zusammengeflossen sind.

Das Myelin und die Oligodendrozyten

Ranviersche Schnürringe

Fast alle Nervenfasern sind von einer aus fettartigen Substanzen und Eiweißstoffen bestehenden Hülle umgeben, die man als Markscheide oder Myelin bezeichnet. Myelin hat zunächst einmal die Aufgabe, die Nervenfasern elektrisch zu isolieren. Weiterhin sorgt es dafür, dass Nervensignale besonders schnell weitergeleitet werden. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass das Myelin die Nervenfaser nicht wie bei einem Elektrokabel gleichmäßig von vorn bis hinten umhüllt, sondern dass es immer wieder von kurzen unmyelinisierten Abschnitten, den sogenannten Schnürringen, unterbrochen wird. Auf diese Weise "springen" die elektrischen Signale von Schnürring zu Schnürring, was ihre Schnelligkeit stark erhöht. Werden die Myelinhüllen teilweise oder ganz zerstört, kommt es zu den MS-typischen Störungen bei der Weiterleitung der elektrischen Signale.

Oligodendrozyten

Das Myelin wird von den Oligodendrozyten gebildet. Sie haben einen kugeligen Zellkörper, von dem viele röhrenförmige Ausläufer ausgehen, die an ihren Enden abgeplattet sind und die Nervenfasern spiralig umhüllen. Man kann sie mit einer Spinne vergleichen Nach der gängigen MS-Theorie kommt es irrtümlich zur Bildung von Antikörpern gegen das Myelin. Wie bereits gesagt, besteht es aus mehreren Lagen eines fettartigen Materials, in das Proteine eingelagert sind. Eines davon, ein kleines basisches Protein, ist das eigentliche Antigen. Die Myelinscheiden werden im Bezirk des Herdes zerstört, und anschließend - nachdem das akute Stadium der Entzündung abgeklungen ist - wandern Makrophagen (Fresszellen) ein, welche die Gewebstrümmer beseitigen. Bei den Makrophagen des Gehirns handelt es sich nicht um die großen Leukozyten, die wir vom Blut her kennen. Diesen ist der Zugang in das zentrale Nervensystem durch die Blut-Hirn-Schranke verwehrt. Ihre Funktion übernehmen sternförmige Zellen, die Astrozyten genannt werden. Sie haben außerdem die Aufgabe, den entstandenen Gewebsdefekt mit Narbengewebe "auszustopfen".

Typ-1 und Typ-2 Herde

Antigen:
Artfremder Eiweißstoff, der im Körper die Bildung von Abwehrstoffen gegen sich selbst bewirkt.

Die Blut/Hirn-Schranke:
Im Gehirn bilden die Zellen der Blutgefäße die so genannte Blut/Hirn-Schranke. Sie lässt nur wenige, ganz bestimmte Stoffe ins Gehirn und schützt es so vor schädlichen Substanzen aus dem Blut.

Seit der klassischen Beschreibung der MS durch Charcot gibt es einen Streit darüber, ob es sich bei der MS um eine Krankheit handelt, die chamäleonartig in verschiedenen Erscheinungsformen auftritt, oder ob der Name MS ein Oberbegriff ist, unter dem ganz unterschiedliche Erkrankungen zusammengefasst werden, die lediglich bestimmte Merkmale (z.B. entzündliche Veränderungen im Rückenmarkswasser und verstreute Herde im Gehirn und Rückenmark) gemeinsam haben.

Tatsächlich ist das Krankheitsbild so bunt und das Spektrum der Verlaufsformen so breit, dass Zweifel an dem bisher akzeptierten Dogma angebracht sind, allen MS-Erkrankungen liege derselbe Entstehungsmechanismus zugrunde. So ist unter anderem vorgeschlagen worden, die primär chronische Verlaufsform als eigenständige Krankheit von der MS abzugrenzen. Dasselbe gilt für die perakute MS, die in Wochen und Monaten zu Bettlägerigkeit und sogar zum Tode führen kann. Auch der Status der isolierten Sehnervenentzündung ist ungeklärt. Neue Nahrung haben diese Spekulationen durch die bemerkenswerten Arbeiten von C. Lucchinetti und W. Brück erhalten. Sie haben die Gehirne von MS-Patienten untersucht und unterscheiden fünf unterschiedliche Arten von Herden, von denen zwei eine besondere Bedeutung haben:

Typ 1: Entmarkung ohne Zerstörung der Oligodendrozyten: In diesen Läsionen zeigte sich ein kompletter Verlust des Myelins, aber die Oligodendrozyten selbst waren erhalten. Wenn wir den Vergleich mit einer Spinne heranziehen, dann entspricht der Befund in Typ l einer Spinne, die ihre Beine verloren hat. Es zeigt sich ein hoher Grad von Remyelinisierung (Neuummantelung der Nervenfasern mit Myelin).

Typ 2: Entmarkung mit Zerstörung der Oligodendrozyten: Hier findet sich ein massiver bis kompletter Untergang der markscheidenbildenden Zellen. Die "Spinne" hat also nicht nur ihre Beine verloren, sondern ist ganz vernichtet. Remyelinisierungsvorgänge sind folglich nicht nachweisbar.

Brück ist der Ansicht, dass sich die Typen l und 2 fundamental unterscheiden. Beim Typ l handele es sich wahrscheinlich um einen Angriff von Antikörpern direkt auf die Markscheide. Beim Typ 2 müsse jedoch ein völlig anderer Mechanismus angenommen werden, nämlich eine primäre Schädigung der Oligodendrozyten durch eine Virusinfektion oder einen Stoffwechselschaden.

Die von Brück beschriebenen Herde kann man auch im Kernspintomogramm unterscheiden. Typ-1-Herde sind die "weißen Flecken" und Typ-2-Herde stellen sich als "schwarze Löcher" dar. Da es in diesen Herden zu keiner Remyelinisierung kommen kann, sind sie fettärmer und weisen deshalb eine höhere Liquorkonzentration auf als andere Herde, was ihr dunkles Zentrum erklärt. Wenn im Kernspintomogramm "schwarze Löcher" nachweisbar sind, ist das immer ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass es sich um eine aggressivere MS-Variante handelt. Vermutlich gibt es also mindestens zwei Arten von MS mit unterschiedlicher Ursache und Prognose, die kernspintomographisch frühzeitig voneinander unterschieden werden können. Wenn sich das bewahrheiten sollte, hätte das natürlich entscheidende Auswirkungen auf die Therapie bzw. die Planung künftiger Therapiestudien, wobei größter Wert darauf gelegt werden müsste, beide Krankheitstypen getrennt voneinander zu untersuchen.

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