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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Wie könnte der ideale Neurologe aussehen?

Ich fürchte, Neurologen sind bei MS-Patienten nicht sehr beliebt. Ein hoher Prozentsatz von Patienten hat das Gefühl, daß ihr eigentliches Problem, weswegen sie den Arzt aufgesucht hatten, beim Verlassen der Praxis nicht zufriedenstellend gelöst worden ist.

Den schlechten Arzt erkennen Sie sofort. Er unterbricht Sie nach dem ersten Satz, sagt Ihnen, daß Sie sich auf das Wichtigste beschränken sollten, und korrigiert Sie ständig wie ein Oberlehrer. Wie Ihr Vater weiß er alles besser, obwohl Sie ja schließlich krank sind und schon mehr als ein Dutzend Schübe hinter sich haben. Sie werden den Verdacht nicht los, daß er ihre Symptome nicht ernst nimmt, manchmal haben Sie sogar das Gefühl, er hält Sie für einen Drückeberger, der es sich mit dem bißchen MS ganz schön leicht macht. Er macht sich darüber lustig, daß Sie Vitamine einnehmen oder eine bestimmte Diät einhalten. Er interessiert sich nicht für Artikel, die Sie in den Medien gefunden und für ihn ausgeschnitten haben. Er fühlt sich von Ihnen verraten, wenn Sie zusätzlich zu einem Homöopathen gehen. Es geht ihm nur um Ihre MS, aber nicht um Sie als Mensch. Wenn seine Medikamente nicht anschlagen, nimmt er es Ihnen persönlich übel. Er verabscheut Erklärungen, drückt sich unverständlich aus, ist hektisch und strahlt keinen Optimismus aus.

Natürlich gibt es auch den unvernünftigen Patienten: Er geht zum Arzt, weil er unter allen Umständen behandelt werden will. Wenn er nichts verschrieben bekommt, fühlt er sich nicht ernst genommen. Er selbst ist nicht bereit mitzuarbeiten. Er will eigentlich nicht wissen, sondern gehorchen. Und er begehrt Beruhigung, nicht Wahrheit.

Welche Rolle spielt eigentlich die Sympathie im Verhältnis zwischen Arzt und Patient? Ich nehme an, daß ihr eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, als ihr normalerweise zugebilligt wird. Ist es wirklich ernstgemeint, wenn die Forderung erhoben wird, ein Arzt müsse alle Patienten gleich behandeln? Nicht nur, daß das über die menschlichen Kräfte geht, es führt auch zu einem konfektionierten, unpersönlichen Verhalten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine Tugend ist, alle Patienten mit derselben Freundlichkeit zu behandeln wie eine Stewardeß die Fluggäste.

Den idealen Arzt gibt es nicht. Aber es gibt zehn Kennzeichen für einen Arzt, mit dem Sie es probieren können:

  1. Er ist einfühlsam, und er nimmt sich Zeit.
  2. Er redet verständlich und läßt Sie geduldig fragen.
  3. Er spricht nicht allein, sondern läßt Sie auch zu Wort kommen.
  4. Er läßt Sie mitentscheiden, duldet Widerspruch und ist nicht gleich beleidigt.
  5. Er hat Erfahrung und ist auf dem neuesten Stand.
  6. Er interessiert sich nicht nur für Ihre Symptome, sondern auch für Ihr Leben, Ihre Kinder, Ihre Hobbys, Ihren Hund.
  7. Er achtet die Weisheit der Natur und ist nicht arrogant gegenüber Außenseitermethoden.
  8. Er handelt uneigennützig.
  9. Wenn er nicht weiter weiß, zieht er einen Kollegen zu Rate.
  10. Er ist immer erreichbar, wenn Sie ihn brauchen.

Und wenn Sie dann noch das Gefühl haben, daß er Ihnen und Sie ihm sympathisch sind, dann haben Sie den richtigen Neurologen.

Mancher Arzt fühlt sich überfordert von Patienten mit einer fortgeschrittenen MS. Das sinkende Boot leckt aus zu vielen Löchern, ohne daß man überall die Hand drauflegen könnte. Mit unheilbaren Patienten weiß unsere Medizin nichts anzufangen. Ich kann die Verzweiflung des Patienten verstehen, wenn er dahinterkommt, daß er unheilbar krank ist, und ich kann auch den unguten Verdacht nicht unterdrücken, daß von dem Augenblick an, in dem das nach Ansicht der Ärzte feststeht, niemand mehr so richtig für den Patienten zuständig ist. Der Patient wird in dem Augenblick fallengelassen, in dem seine Angst am größten ist.

Man hat uns eingeredet, nur das sei wirksam, was wir mit Medikamenten und Operationen vollbringen, hat sich lustig gemacht über die, die viel reden, aber nichts können, und die dummen Menschen, die auf Plazebos und Vitamine hereinfallen. Der gute Arzt, so sagt man, muß immer eine Erklärung wissen oder etwas verordnen. Aber manchmal ist es ganz anders. Ich denke an eine meiner Patientinnen, die seit Jahren unter einer ständigen Übelkeit litt. Alles, was ich bisher verordnet hatte, war wirkungslos geblieben. Was sollte ich noch tun? Ich kam mir nutzlos vor. Da sagte sie zum Abschied etwas, was ich nie vergessen werde: „Ich erwarte gar nicht, daß mir mein Arzt hilft. Ich brauche nur jemanden, der mir zuhört und der mich versteht, der mich nicht ablehnt, weil er mir nicht helfen kann."

Wir sollten es wieder lernen, mit unseren Patienten zu sprechen, ihnen zuzuhören, ihre Sorgen zu verstehen. Viele möchten ihren Ehepartner und ihre Familie nicht mit ihren Beschwerden belasten. Sie sind zu stolz, mit Bekannten oder Nachbarn darüber zu sprechen, was sie unablässig quält. Aber damit sind sie auch allein. Und da brauchen sie den Arzt, der sich auskennt, der sie ernst nimmt, der ihnen sagt, daß sie sich das alles nicht nur einbilden, daß das, was sie quält, wirklich da ist; und sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, wie tapfer sie sind.

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