Frage der Woche - Archiv
Ist die MS eine Autoimmunkrankheit?
Zu diesem Thema hat der 'Blickpunkt' ein Gespräch mit Dr.W.Weihe geführt, das hier im Wortlaut wiedergegeben wird. Der 'Blickpunkt' ist die Zeitschrift der 'Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V.' (MSK).
Vor einiger Zeit ist im Journal of the Royal College of Physicians of Edinburgh ein bemerkenswerter Artikel mit dem Titel „The Pathogenesis of Multiple Sclerosis - revisited" erschienen, in dem die Autoren P.O. Behan, A. Chaudhuri und B.O. Roep, allesamt Neurologieprofessoren, an den Grundfesten der MS-Forschung rütteln. Sie behaupten, dass die Annahme, die MS sei eine Autoimmunkrankheit, auf tönernen Füßen stehe. Nicht zuletzt deshalb seien die Fortschritte in der MS-Therapie so kläglich.
Da Herr Dr.Weihe bereits vor Jahren ebenfalls Zweifel an der Theorie von den „wildgewordenen" Lymphozyten geäußert hat, haben wir ihn um eine Stellungnahme gebeten. Daraus entwickelte sich das folgende Gespräch, das wir Ihnen (in leicht überarbeiteter Form) nicht vorenthalten möchten.
Blickpunkt: Lieber Herr Dr. Weihe, vielleicht sollten wir damit beginnen, die gängige Theorie zur Krankheitsentstehung der MS kurz zu schildern.
W.W.: Gern. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass im peripheren Blut T-Lymphozyten, die spezifisch gegen Bestandteile der weißen Hirnsubstanz gerichtet sind, z.B. durch Viren oder andere Reize aktiviert werden. Diese durchdringen die Blut-Hirn-Schranke,gelangen ins Gehirn bzw. ins Rückenmark und setzen dort Zytokine wie z.B. das Gamma-lnterferon frei, die zu einer Entzündungskaskade führen, an deren Ende die herdförmige Zerstörung der weißem Hirnsubstanz steht. Das ganze Konzept geht auf Glanzmann zurück, der 1927 als erster eine „allergische" Ursache der MS vermutete, und beruht auf indirekten, zum Teil sehr zweifelhaften Befunden. Das ist deswegen von größter Bedeutung, da nicht nur die gesamte Grundlagenforschung der MS, sondern auch alle therapeutischen Ansätze vom Cortison über das Azathioprin (Imurek®) bis hin zu den Beta-interferonen (Avonex®, Rebif® und Betaferon®), dem Glatirameracetat (Copaxone®) und dem Mitoxantron (Ralenova®) auf der Annahme beruhen, dass ie MS eine Autoimmunkrankheit sei.
Blickpunkt: Wie kam es eigentlich zur Autoimmuntheorie der MS?
W.W.: Im Grunde genommen kann man nicht von einerTheorie, sondern höchstens einer Hypothese sprechen, die allerdings so häufig gebetsmühlenartig in Lehrbüchern und Artikeln zur MS wiederholt worden ist, dass sie nicht nur von MS-Betroffenen, sondern auch von den meisten Neurologen als eine unumstößliche Tatsache angesehen wird. Es begann damit, dass Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Tollwut-Schutzimpfung unerklärliche Todesfälle auftraten. Wenige Tage bis Wochen nach der Impfung entwickelten die betroffenen Patienten Lähmungserscheinungen, Taubheitsgefühle und Hirnnervenausfälle und starben kurze Zeit später. Man sprach von einer postvakzinalen Encephalomyelitis. Das klinische Bild, aber auch die mikroskopisch nachweisbaren Hirnveränderungen hatten keine Ähnlichkeit mit der Tollwut, sondern erinnerten vage an die MS. Fast ein halbes Jahrhundert lang wurden die Impfkomplikationen auf das abgeschwächte Tollwutvirus zurückgeführt, bis 1937 Affen, denen das Rückenmarksgewebe von Kaninchen gespritzt worden war, Symptome entwickelten, die mit der Impfreaktion identisch waren. Erst jetzt erkannte man, dass die postvakzinale Encephalomyelitis auf einer Überempfindlichkeitsreaktion gegen das artfremde Rückenmarksgewebe beruhte. Das Tollwutvirus wurde damals nämlich im Gehirn und Rückenmark von Kaninchen gezüchtet, und der Impfstoff war mit Resten davon verunreinigt. So entstand die Hypothese, dass es sich bei der MS um eine Überreaktion des Immunsystems gegen die weiße Hirnsubstanz handele.
Blickpunkt: Und aus diesen Überlegungen wurde das Tiermodell der MS entwickelt?
W.W.: Genau. Da es sich aus ethischen Gründen verbietet, Experimente an Menschen durchzuführen, hat man nach einer Tierkrankheit gesucht, die der MS ähnlich ist. Es stellte sich jedoch heraus, dass Tiere normalerweise keine der MS-verwandten Krankheiten bekommen. Deshalb wurde ein künstliches Tiermodell der MS, die experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE), entwickelt. Der Grundgedanke war, Tieren artfremdes Gehirn- oder Rückenmarksgewebe zu spritzen, um auf diese Weise Lymphozyten gegen die weiße Hirnsubstanz zu „allergisieren“, wie es als Komplikation bei der Tollwutschutzimpfung vorgekommen war. Die EAE gilt als das am besten untersuchte Tiermodell einer Autoimmunerkrankung, nur hat sie nichts mit einer MS zu tun.
Blickpunkt: Das müssen Sie näher erklären.
W.W.: Die EAE hat vier Schönheitsfehler:
- gelang es nur bei einem kleinen Teil der Tiere, durch eine Injektion von artfremdem Hirngewebe allein eine Entzündung hervorzurufen. Die Ausbeute wurde erst größer, als man nach vielen vergeblichen Versuchen das zerriebene Hirngewebe mit Tuberkelbakterien und Mineralöl versetzte.
- erkrankten dieTiere nach wenigen Tagen und nicht, wie im Falle der MS, nach Jahren.
- wiesen die unter dem Mikroskop erkennbaren Veränderungen nur geringe Ähnlichkeiten mit MS-Herden auf; und
- verlief die Krankheit nicht schubförmig.
Blickpunkt: Zum letzten Punkt. Gibt es jetzt nicht verbesserte Methoden, mit denen es möglich ist, einen schubförmigen Verlauf zu erzeugen?
W.W.: Bei jeder Tierart verläuft die EAE anders. Normalerweise handelt es sich um ein akutes Krankheitsbild, das zum Tod oder schweren Behinderungen führt. Nur mit ganz besonderen Tricks gelingt es, dass eine EAE mit Rückbildungen und Verschlechterungen verläuft, z.B. bei Guinea-Schweinen, wenn sie direkt nach der Geburt allergisiert werden. Auch soll eine besondere Rasse von Pinseläffchen gezüchtet worden sein, bei denen die EAE einen chronischen Verlauf nimmt. Ganz abgesehen von dem grausigen Cocktail aus Hirngewebe, Öl und Bazillen sind das Bedingungen, die weit von den möglichen natürlichen Ursachen der MS entfernt sind. Es bleiben also erhebliche Zweifel, ob es sich bei der EAE und der MS um vergleichbare Krankheiten handelt.
Blickpunkt: Die EAE soll aber wohl mit der akuten MS identisch sein.
W.W.: Das ist richtig. Nur wird die sogenannte „akute MS“ fälschlicherweise zur Gruppe der MS-Erkrankungen gezählt. Sie hat nichts damit zu tun. Ihr korrekter Name lautet akute disseminierte Encephalomyelitis (ADEM). Wie die oben erwähnte postvakzinale Encephalomyelitis ist sie eine Gefäßerkrankung. Es kommt zu einer Entzündung der Hirngefäße, die herdförmig auf das benachbarte Hirngewebe übergreift. Die Entmarkung ist dabei nichts anderes als eine sekundäre Begleitreaktion, während diese bei der MS primär ist und im Vordergrund steht.
Blickpunkt: Vielen unserer Leserinnen wird das Krankheitsbild der ADEM nicht geläufig sein. Können Sie kurz etwas dazu sagen?
W.W.: Die ADEM ist eine dramatisch verlaufende Krankheit, die praktisch immer direkt im Anschluss an eine Infektion oder eine Impfung auftritt. Die Patienten erkranken akut mit Fieber, Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Erbrechen und epileptischen Anfällen. Viele sterben im Koma. Wer überlebt, hat schwere Ausfälle. Schübe treten nicht auf.
Blickpunkt: Wenn wir Sie recht verstehen, ist die EAE also ein Modell der ADEM und der postvakzinalen Encephalomyelitis, aber nicht der MS?
W.W.: Das ist richtig.
Blickpunkt: Aber gibt es nicht noch andere gewichtige Hinweise darauf, dass es sich bei der MS um eine Autoimmunkrankheit handelt, z.B. die Durchsetzung der MS-Herde mit Lymphozyten?
W.W.: Das ist allerdings so gedeutet worden. Aber bereits der Neuropathologe Lumsden, der als der führende MS-Experte auf seinem Gebiet gilt, ist nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass die lymphozytäre Infiltration in MS-Herden eher gering ist und in vielen Fällen sogar fehlen kann. Auch andere MS-Forscher haben bestritten, dass die Lymphozyten die Ursache der Entmarkung sind. Außerdem finden sich dieselben Veränderungen auch bei anderen Hirnschädigungen, die weder etwas mit einer Entzündung noch mit einem Autoimmunprozess zu tun haben, z.B. Infarkten oder Hirntumoren.
lickpunkt: Und die oligoklonalen Banden?
W.W.: Sie sind zwar ein ernstzunehmender Hinweis auf einen chronischen Entzündungsprozess - aber nicht für eine Autoimmunkrankheit, denn man hat nie nachweisen können, dass sie spezifisch gegen Bestandteile der weißen Hirnsubstanz gerichtet sind.
Blickpunkt: Unter der Annahme, dass die MS eine Autoimmunkrankheit ist, müsste es doch eigentlich möglich sein, autoreaktive, also gegen das eigene Myelin gerichtete T-Lymphozyten nachzuweisen. Hat man das versucht?
W.W.: Natürlich. Aber überraschenderweise fand man, dass diese ebenso im Blut gesunder Kontrollpersonen vorkommen. Nur im Blut von Tieren mit EAE und bei Patienten mit ADEM sind autoreaktive Lymphozyten vermehrt, nicht bei MS-Kranken.
Blickpunkt: Zeigen nicht die Therapieerfolge, die bei Tieren mit EAE erzielt und auf Menschen mit MS übertragen wurden, dass an der Autoimmun-Hypothese doch etwas dran ist?
W.W.: Das Gegenteil ist der Fall. Viele Therapien, die bei der EAE wirken, funktionieren bei der MS nicht. Ich verweise nur auf die orale Gabe von Myelin und - als besonders eindrucksvolles Gegenbeispiel - die Erfolge von Gamma-lnterferonen bei der EAE und die katastrophale Verschlechterung bei der MS.
Blickpunkt: Welche ernstzunehmenden Konkurrenten gibt es zur Autoimmun-Hypothese?
W.W.: Ich kann Ihnen nur meine ganz persönliche Ansicht sagen. Ich denke, dass die MS tatsächlich im wahrsten Sinn des Wortes eine multifaktorielle Krankheit ist, also nicht eine, sondern ein komplexes Netz von vielen Ursachen hat - ganz ähnlich wie die Arteriosklerose. Weiterhin bin ich überzeugt, dass sie eine Zivilisationskrankheit ist, also mit unserer modernen Lebensweise zusammenhängt. Für mich kommen vor allem zwei Hypothesen als Favoriten in Frage. Zunächst einmal die EBV-Stress-Hypothese, die mit der Autoimmun-Hypothese nahe verwandt ist. Erst vor kurzem wurde gezeigt, dass sich in der weißen Substanz des Gehirns von MS-Kranken unter Stress ein Eiweiß ausbildet, das unter normalen Umständen im menschlichen Körper nicht vorkommt, das Hitze-Schock-Protein. Es hat ein Erkennungsmerkmal, eine Kette aus fünf Aminosäuren in der Reihenfolge R-R-P-F-F. Genau diese Kette kommt auch im Eiweißmantel des Epstein-Barr-Virus (EBV) vor. So lautet die sogenannte EBV-Stress-Hypothese der MS: Irgendwann einmal in der Kindheit infiziert man sich mit dem EBV und die Lymphozyten bilden Antikörper gegen R-R-P-F-F. Sie bleiben so lange harmlos, bis es in extremen Belastungssituationen zur Ausbildung vom Hitze-Schock-Protein im Gehirn kommt. Dann greifen die Lymphozyten die weiße Hirnsubstanz an, weil sie glauben, es handele sich um einen Eindringling.
Möglich ist aber auch eine virusunabhängige Schädigung der Hirnsubstanz durch Stoffwechselabbauprodukte, die sogenannte „Hypothese der toxischen Konzentrationen". Sie beruht vor allem auf der Beobachtung, dass sich im Zentrum eines MS-Herdes immer eine Vene befindet. Üblicherweise geht man davon aus, dass das, was die MS-Herde verursacht, über dieVenen in das Gehirn eindringt und sich tintenklecksartig ausbreitet. Hierbei kann es sich um eine toxische (giftige) Substanz handeln oder aber um aggressive Lymphozyten, die wegen des langsamen Blutstroms leicht an der Venenwand andocken und sie durchwandern können. Die „Hypothese der toxischen Konzentrationen“ nimmt umgekehrt an, dass alles, was an giftigen Stoffwechselschlacken im Gehirn entsteht, zu den Venen bzw. Hirnkammern hin drainiert wird, und dort kurz vor der Einmündung in die größeren Abwässerkanäle hohe Konzentrationen erreicht. Sie geht davon aus, dass ein Gewebe, das unter hoher Beanspruchung steht und somit eine hohe Stoffwechselrate hat, besonders anfällig ist. Ein Beispiel ist der „Muskelkater“, der bei Überlastung durch eine Ansammlung von Milchsäure im Gewebe entsteht. Normalerweise führt das nur zu Schmerzen und hat sonst keine Folgen. Wenn die Übersäuerung jedoch zu lange besteht, werden die Muskelfasern geschädigt. Somit könnte es durch einen Überschuss an Stoffwechselschlacken in strapazierten oder „überhitzten“ Hirnregionen zu einer Veränderung des Myelins kommen, welches dann von den Lymphozyten nicht mehr als körpereigen angesehen wird. Da die Venen die gemeinsame Endstrecke aller Abbauprodukte sind, ist der Saum um die Venen so gefährdet wie die Bewohner in der Nähe einer Müllverbrennungsanlage.
Wie dem auch sei, was wir brauchen, sind junge MS-Forscher, die sich trauen, vorurteilsfrei mit neuen, ungewöhnlichen Ideen an das Rätsel der MS heranzugehen, die ausscheren und den Trott der normalen Wissenschaft verlassen. Ich kann Behan, Chaudhuri und Roep nur zustimmen: Die MS-Forschung ist in einer Sackgasse gelandet, eine kopernikanische Wende ist dringend erforderlich.
Blickpunkt: Wir danken Ihnen für das Gespräch.