Frage der Woche - Archiv
Fördert Cortison den Untergang von Nervenzellen?
Anfang letzten Jahres ist im Journal of Neuroscience ein Artikel erschienen mit dem Titel „Methylprednisolone Increases Neuronal Apoptosis during Autoimmune CNS Inflammation by Inhibition of an Endogenous Neuroprotective Pathway.“ Die Studie wurde an der Universität Göttingen unter der Leitung der vielversprechenden Jungforscherin Dr. Ricarda Diem durchgeführt. Es begann damit, dass es Ende der 90er Jahre der Arbeitsgruppe um Ricarda Diem gelang, bei einer akuten, experimentell erzeugten Sehnerventzündung von Ratten nicht nur eine Schädigung von Markscheiden, sondern auch eine Zerstörung von Nervenzellen nachzuweisen. Das machte Pharmafirmen, die MS-Medikamente herstellen, sofort hellhörig. Wenn nämlich bei Ratten gezeigt werden könnte, dass der Nervenzelluntergang durch z.B. Betainterferone gebremst wird, dann wäre das zwar kein Beweis, aber ein überzeugender Hinweis auf die Wirksamkeit ihrer Präparate und würde die auf den Arbeiten von Bruce D. Trapp fußende Hypothese stützen, dass ein frühzeitiger Einsatz von Betainterferonen den Langzeitverlauf der MS günstig beeinflussen könnte.
Als ersten Schritt (praktisch als Vorversuch) beschloss man, die Wirkung von Methylprednisolon auf die Sehnerventzündung zu untersuchen, weil hier rasche und eindeutige Aussagen zu erwarten waren. Das Ergebnis war völlig überraschend: Es zeigte sich, dass die Ratten, die mit Methylprednisolon behandelt worden waren einen signifikant höheren Nervenzellverlust aufwiesen als die mit Kochsalz behandelten Kontrollen. So wichtig dieses Resultat ist, für die Forscher ist es niederschmetternd, denn es ist kaum zu erwarten, dass die Pharmaindustrie als Hauptsponsor klinischer Forschung weiteres Interesse an ihrem Modell haben wird.
Es kann nur vermutet werden, dass die Studie unter Druck der Financiers (in diesem Fall wird es sich um Schering als Hersteller von Methylprednisolon handeln) zwar veröffentlich wurde, jedoch in einer Zeitschrift, die fast ausschließlich von Wissenschaftlern, aber nicht von praktizierenden Ärzten gelesen wird. Auch die sehr vorsichtig formulierte Deutung der Ergebnisse dürfte dem Wunsch der Geldgeber entsprechen: Man habe zwar nachgewiesen, dass es unter einer Therapie mit Methylprednisolon zu einem vermehrten Nervenzelluntergang komme, bei dem gewählten Tiermodell überwiege aber die degenerative Komponente, während zumindest bei einem Teil der menschlichen MS der entzündliche Anteil im Vordergrund stehe. Insofern seien die Ergebnisse nur mit Vorsicht auf die menschliche MS zu übertragen. Trotzdem wird eine Überprüfung der Standardtherapie des akuten MS-Schubes mit Cortison empfohlen. Nachdenklich stimmt, dass Frau Diem zwar im letzten Jahr der Helmut-Bauer-Nachwuchspreis für MS-Forschung zugesprochen wurde, aber in den Mitteilungen des DMSG-Bundesverbandes kein Wort über das Ergebnis verloren wurde.
Meiner Meinung nach stellt diese Arbeit einen wichtigen Meilenstein in der MS-Therapie dar. Es ist zwar immer wieder gezeigt worden, dass Cortison die Symptome eines MS-Schubes lediglich schneller, aber nicht besser zum Abklingen bringt und langfristig keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat, aber hier wurde zum ersten Mal eindrucksvoll demonstriert, dass die Cortisonbehandlung des akuten MS-Schubes (zumindest in Einzelfällen) schädlich sein kann. Etwas beunruhigend ist auch der Hinweis der Autoren, dass es eine eindeutige Beziehung zwischen der Parkinsonschen Erkrankung und der Alzheimer-Demenz und erhöhten Cortisonspiegeln im Blut gibt, und dass hohe Cortisonspiegel mit der Hirnatrophie korrelieren.