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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Welche Verlaufsformen hat die MS?

Die drei Verlaufsformen der MS, die im Allgemeinen unterschieden werden, sind eine grobe Vereinfachung.

Nach einer groben Einteilung werden bei der MS drei Verlaufstypen unterschieden: der rein schubförmige Verlauf, der primär schubförmige, dann chronisch progrediente Verlauf und der primär chronische Verlauf. Es ist mehr als zweifelhaft, ob es sich hierbei tatsächlich um drei im Wesen verschiedene MS-Formen handelt.

Verlaufsformen

Die unterschiedlichen Verlaufsformen der MS.

a) Monosymptomatische Verlaufsform mit einem Schub (z.B. Opticusneuritis) ohne weitere Symptome. Wahrscheinlich ist dies die häufigste Verlaufsform der MS.
b) Schubförmiger Verlauf mit zwei oder mehr Schüben ohne Übergang in das chronisch-progrediente Stadium,
c) Primär schubförmige, dann chronisch-progrediente Verlaufsform: Beginn mit einem Schub mit völliger Remission. Alle weiteren Schübe bilden sich nur noch unvollständig zurück, und es kommt zu einer stufenweisen Zunahme der Behinderung,
d) Beginn mit einem Schub, der sich nicht vollständig zurückbildet und weiteres langsames Fortschreiten der Erkrankung,
e) Schleichender Beginn mit langsam zunehmender Behinde­rung ohne eindeutige Schübe.

Vielmehr ist davon auszugehen, daß die drei Verlaufstypen ziemlich willkürlich aus einer Unzahl von verschiedenen Verläufen herausgehoben worden sind. Eine zutreffendere Übersicht über typische Verlaufsformen zeigt die Abbildung. Aber auch hierbei sollte man beachten, daß es sich um Idealisierungen etwa in der Weise handelt, wie wir versuchen, die Umrisse von Tieren in bestimmten Sternkonstellationen zu entdecken.

Strategisch wichtige und strategisch unwichtige Lokalisationen

Wie die MS verläuft, hängt im wesentlichen von zwei Faktoren ab: der Lokalisation der Herde und der Krankheitsaktivität. Herde können sich an strategisch wichtigen oder an strategisch unwichtigen Stellen im ZNS entwickeln. So hat ein Herd am Ufer der Seitenventrikel keine klinisch faßbaren Symptome zur Folge, ein gleich großer Herd im Rückenmark kann aber zur Lähmung beider Beine, und wenn er im oberen Halsmark lokalisiert ist, sogar zur Lähmung aller vier Extremitäten führen. Dasselbe gilt für einen relativ großen Herd im Kleinhirn, der symptomlos bleiben kann, während es bei einem winzigen Herd in der Capsula interna, wo sich die Nervenfasern auf engstem Raum zusammendrängen, zur Lähmung einer gesamten Körperhälfte wie bei einem Schlaganfall kommt.

Die MS kann einen milden oder einen aggressiven Charakter haben.

Ein zweiter bedeutsamer Faktor ist die Krankheitsaktivität. Als Grad der Krankheitsaktivität gilt die Zahl und die Größe der Herde, die pro Jahr produziert werden. Verläuft die Krankheit aggressiv mit großen und vielen Einzelherden, dann kommt es im Laufe der Zeit zu einer Summierung der Ausfälle, bis schließlich einzelne Schübe nicht mehr abgrenzbar sind, d.h. die MS geht allmählich in die chronisch-progrediente Verlaufsform über. Sind die Herde klein und gering an Zahl, dann bleibt die MS schubförmig oder kommt zum Stillstand. Bei den klassischen Infektionskrankheiten hängt die Krankheitsaktivität von der Virulenz des Erregers ab, also von seiner Infektionskraft und Vermehrungsfähigkeit. Auch wenn wir die Ursache der MS nicht kennen, wird es sich hier vermutlich ähnlich verhalten, und ihre Zerstörungskraft wird davon bestimmt werden, ob der unbekannte schädigende Faktor in größerer oder kleinerer Menge in unserem Körper aktiv wird bzw. in schwächerer oder stärkerer Weise auf ihn einwirkt.

Der schubartige Verlauf der MS ist ein wichtiges Indiz dafür, daß ein Remis zwischen krankmachenden Faktoren und der Abwehrkraft des Körpers möglich ist. Und wenn diese Annahme richtig sein sollte, dann sind wir der Krankheit nicht hilflos ausgeliefert, weil es möglich ist, letztere zu steigern, auch wenn wir dem Feind nicht von Angesicht zu Angesicht entgegentreten können.

Wie die MS verläuft hängt im wesentlichen vom Verhältnis der Aggressivität der Erkrankung zu Ihren Abwehrkräften ab.

Ich möchte diesen Sachverhalt am Beispiel der Tuberkulose verdeutlichen. Auf der einen Seite gab es Verläufe, die von Anfang an so stürmisch waren, daß jede Gegenwehr zwecklos war. Auf der anderen Seite - und das war wesentlich häufiger - verlief die Krankheit schleichend, flackerte ab und zu einmal auf und kam schließlich zum Stillstand, indem sie wie ein Pendel langsam ausschwang. Es kann nur vermutet werden, daß in diesen Fällen die Zahl der Tuberkelbazillen unterhalb einer kritischen Grenze blieben, und sich ein labiles Gleichgewicht zwischen dem Erreger und der körpereigenen Abwehr einstellte. So konnte die Erkrankung unter normalen Umständen in Schach gehalten werden und schaffte nur in besonders belastenden Situationen einen erneuten Durchbruch.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der MS. Es gibt seltene Verläufe, denen der oder die Betroffene hilflos ausgeliefert sind, meistens liegt aber ein Patt vor, ein ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger. Wie beim Schachspiel kommt es auf Ihre Geschicklichkeit an, wer gewinnt. Die Ruhe zwischen zwei Schüben zeigt, daß es möglich ist, diesen Zustand zu erreichen. Dabei handelt es sich aber, wie gesagt, um einen labilen Zustand, der besonderer Vorsichtsmaßnahmen bedarf. Ein anderes Bild für das, was ich meine, ist das Schiff im Sturm. Natürlich gibt es Stürme, gegen die man nichts ausrichten kann, vielen jedoch kann man trotzen durch Vorsicht und Vorsorge.

Ein letzter bemerkenswerter Punkt zur Krankheitsaktivität: Es gilt die Faustregel, daß sie oft zu Beginn am stärksten ausgeprägt ist, im weiteren Verlauf aber dazu neigt, sich zu verzehren oder auszubrennen wie ein Feuer, das zu Beginn am hellsten brennt, dann aber langsam verlischt, obwohl es immer wieder noch einmal auflodern kann, wenn in die Glut geblasen wird.

Die MS ist zu Beginn am aktivsten und verliert ihre Aggressivität im Laufe der Zeit.

Da die klinische Symptomatik und der Behinderungsgrad von beidem, der Krankheitsaktivität und der zufälligen Lokalisation der Herde, abhängt, ist die Prognose schwer abschätzbar: Bei geringer Krankheitsaktivität kann ein einziger Herd im Rückenmark zum Bild einer primär-chronischen Verlaufsform führen, während bei einem anderen Patienten ein wesentlich aggressiverer MS-Typ vorliegen kann, wobei trotz vieler gleich großer oder sogar größerer Herde keine faßbaren klinischen Ausfälle auftreten.

Von einem gutartigen (benignen) Verlauf spricht man, wenn es nach 15 Krankheitsjahren zu keiner schweren Behinderung gekommen ist. Diese Patienten sind also gehfähig und haben allenfalls eine geringe Ungeschicklichkeit der Hände, eine leichte Schwäche einer Körperhälfte oder Gleichgewichtsstörungen. Die Häufigkeit des „benignen" Verlaufs soll bei 40% liegen. In Wirklichkeit ist der Anteil jedoch sehr viel höher, wenn man die isolierten Opticusneuritiden und die Fälle von stummer" MS mitberücksichtist.

Beim aggressiven oder „malignen" Verlauf kommt es innerhalb von Monaten oder weniger Jahre zu einer schweren Behinderung. Er ist glücklicherweise selten und liegt etwa bei 1%.

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