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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Wer war Jacqueline du Pré? (Teil 1)

Gespräch im ICE: Niemand, der berühmt ist, hat MS

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich vor einigen Jahren mit einem Freund im ICE von Kassel nach Bremen fuhr, um ein Seminar des bekannten Medizinkritikers und ehemaligen Jesuitenpaters Ivan Illich zu besuchen.

Während der Fahrt kamen wir auf das trostlose Erscheinungsbild der multiplen Sklerose in der Öffentlichkeit zu sprechen. Die MS ist nach wie vor eine Krankheit, über die man - und darin gleicht sie dem Krebs - nicht gern spricht. Mein Freund, der wie ich Neurologe ist, erwähnte, wie das Ansehen der Alzheimerschen Krankheit gestiegen sei, als Ronald Reagan daran erkrankte und sich öffentlich dazu bekannte. „Was der MS fehlt“, meinte er, „ist so jemand wie Lady Diana.“

Ich dachte über seine Bemerkung nach und da wurde mir auf einmal bewußt, daß ich tatsächlich niemanden kannte, der MS hatte und berühmt war. Mein Freund jedoch erinnerte sich vage an einen Spiegel-Artikel über eine ganz verrückte englische Musikerin, die wegen einer MS ihre Karriere aufgeben mußte. Leider fiel ihm ihr Name nicht ein.

Später im Seminar saß eine ältere Dame neben mir, von der ich wußte, daß sie mit einem Engländer verheiratet war und Geige spielte. „Aber natürlich“, sagte sie, „das kann nur Jacqueline du Pré sein. Sie ist die bedeutendste Cellistin dieses Jahrhunderts gewesen. Das Elgar-Konzert war ihr Paradestück. Es muß Anfang der 70er Jahre gewesen sein, als es während eines Konzerts in New York zur Katastrophe kam. Sie spürte die Saiten nicht mehr unter ihren Fingern. Die Ärzte hielten das Ganze für eine Erschöpfung oder eine Neurose, aber kurze Zeit später wurde eine MS diagnostiziert, und sie sollte nie wieder auf der Konzertbühne stehen.“

Die Auskunft hatte mich so neugierig gemacht, daß ich in der Pause in die nahe gelegene Universitätsbibliothek ging und dort zu meiner Freude eine Biographie über Jacqueline du Pré fand. Ich kopierte das ganze Buch, das leider in Englisch geschrieben war, und zog mich abends frühzeitig in mein Hotelzimmer zurück. Was ich las, klang wie ein Märchen, und meine Überzeugung, genau das richtige Schicksal gefunden zu haben, um einen Glanz von Glück und Erfolg auf eine Krankheit fallen zu lassen, die immer im Schatten gestanden hatte, nahm von Seite zu Seite zu. Daneben interessierte mich natürlich die Frage, ob es Zusammenhänge gäbe zwischen ihrer Lebensgeschichte und dem Ausbruch ihrer Erkrankung.

Jacquelines Jugend

Jacqueline du Pré hatte französische Vorfahren und wurde 1945 auf der Insel Guernsey geboren. Ihre vier Jahre ältere Schwester Hilary spielte Querflöte und avancierte rasch zu einem kleinen Kinderstar. Jacqueline bewunderte sie, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, von ihr an den Rand gedrängt zu werden. Kurz vor ihrem 5. Geburtstag kam es zu dem Ereignis, das ihr Leben verändern sollte. Sie war auf ein Bügelbrett geklettert, um das Radio auf dem Küchenschrank einzuschalten. Zufällig war im Kinderfunk gerade eine Einführung in die Instrumente des Orchesters. Eigentlich fand sie das langweilig, bis das Cello an die Reihe kam. Später berichtete sie: „Ich verliebte mich sofort. Etwas in dem Instrument sprach zu mir, und seitdem ist es mein Freund geblieben.“

Sie bekam Cello-Unterricht. Die Mutter, die selbst eine ausgezeichnete Pianistin war, schrieb abends, wenn ihre Tochter schlief, einfache Melodien auf und machte dazu kleine Kinderverse und Illustrationen. Wenn Jacqueline, die Jackie genannt wurde, morgens ein neues Stück auf ihrem Nachttischchen vorfand, freute sie sich riesig. Dann stürzte sie noch im Nachthemd die Treppe hinunter, um es sofort auf dem Cello auszuprobieren. Auf diese Weise entstand ein Notenbüchlein, das später unter dem Titel „Lieder für mein Cello und mich“ veröffentlicht wurde und noch jetzt vielen Kindern in England und Amerika als erstes Lehrbuch dient.

Jacquelines künstlerische Entwicklung

Mit 16 Jahren hatte sie ihren ersten großen Auftritt, für den ihr eine Gönnerin ein wertvolles Cello von Stradivari schenkte. Sie war zu dieser Zeit ein großes, pummeliges und etwas ungelenkes Mädchen. Ihre Kleider waren ohne jeden Schick, ihr Haar kurzgeschoren wie bei einem Jungen. Wegen ihrer intensiven Konzentration auf das Cello hatte sie keine richtige Jugend gehabt. Alles wurde ihrem musikalischen Talent untergeordnet, und so war sie äußerst einseitig erzogen worden. Schule und Hausaufgaben wurden völlig vernachlässigt. Sie kannte keine Freundschaft, nicht die Spiele auf dem Schulhof und auch nicht die Streiche, die man den Lehrern spielt. Mit 17 Jahren war sie noch nie im Kino gewesen, und auf Partys wußte sie nicht, worüber sie sprechen sollte.

hre atemberaubende Karriere begann, als sie mit 18 das Cellokonzert von Edward Elgar spielte, das zu ihren Meisterinterpretationen zählt. Vom ersten Mal an, als sie es spielte, wurde sie mit diesem Konzert identifiziert.

Elgar hatte die Komposition in den letzten Wochen des 1. Weltkrieges begonnen. Das Konzert bringt die geistig-seelische Erschöpfung des Komponisten zum Ausdruck und sein Gefühl, daß nichts mehr so sein würde wie vor dem Krieg. Es ist erstaunlich, wie dieses melancholische Werk eines alternden Mannes zum Paradestück eines jungen Mädchens werden konnte. Innerhalb von kurzer Zeit wurde aus den pummeligen „häßlichen Entlein“ ein bewunderter Star, mit langen blonden Haaren, die ihr während ihres temperamentvollen Spiels wild um den Kop flatterten, und einem strahlenden, unwiderstehlichen Lächeln.

Das Pfeiffersche Drüsenfieber

Im Juli 1966, also mit 21 Jahren, erkrankt sie am Pfeifferschen Drüsenfieber. Das ist eine merkwürdige Krankheit, die im typischen Fall zu Fieber, allgemeiner Abgeschlagenheit, einer eitrigen Mandelentzündung und einer Schwellung aller Lymphknoten führt. Bevorzugt betroffen sind junge Menschen in der Pubertät, was sicher etwas damit zu tun hat, daß der Erreger, das Epstein-Barr-Virus, von Mund zu Mund, also durch das Küssen übertragen wird.

Da die Krankheit bei ihr ungewöhnlich heftig verläuft muß sie ins Krankenhaus. Um sich zu erholen, besucht sie im Oktober eine Tante in Südfrankreich. Obwohl es bereits bitterkalt ist und sie noch nicht ganz gesund ist, läßt sie es sich nicht nehmen, im Atlantik schwimmen zu gehen.

Ist der Erreger die Ursache?

Bis hierher war ich gekommen, als ich auf die Uhr blickte und sah, daß es schon spät geworden war. Vor dem Einschlafen nahm ich mir in der Hotelbar noch etwas Zeit, darüber nachzudenken, was ich gelesen hatte. Vor allem ging mir die Frage durch den Kopf, was die spätere MS-Erkrankung mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber zu tun haben könnte, und ob es von Bedeutung war, daß sie es verschleppt und nicht genügend auskuriert hatte.

Zu welcher Symptomatik das Epstein-Barr-Virus führt, hängt vom Erkrankungsalter ab. Erfolgt die Infektion bereits im Kindesalter, ist es durchaus möglich, daß sie nahezu unbemerkt abläuft, tritt sie erst später, also im Erwachsenenalter, auf, kann sie die Ursache des chronischen Müdigkeitssyndroms sein, das ja auch ein Kernsymptom der MS ist.

Aber auch aus anderen Gründen gilt das Epstein-Barr-Virus als einer der Hauptverdächtigen unter den vermutlichen Ursachen der MS. Dafür sprechen vor allem drei Gründe: Erstens sind bei allen MS-Patienten ohne Ausnahme Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus nachweisbar, zweitens geht jedem Schub ein Anstieg dieser Antikörper voraus, und drittens ist die Wahrscheinlichkeit an einer MS zu erkranken, nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber um das Zwei-bis Dreifache erhöht.

Aber reicht das? Warum bekommen die meisten Menschen keine MS, obwohl sie am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt sind? Muß nicht noch etwas anderes hinzukommen?

Dazu paßte gut, was ich vorher im Seminar gehört hatte. Ivan Illich hatte den modernen Krankheitsbegriff scharf attackiert und bestritten, daß sich Krankheiten klassifizieren ließen wie Pflanzen oder Tiere.

Hippokrates, der Vater der Medizin, kannte keine Erreger und keine Irrtümer im Immunsystem als Ursache von Krankheiten. Für ihn war Krankheit ein Ungleichgewicht der Körpersäfte, krank war der Mensch als Ganzer. Die Diagnose beschreibt nur etwas Oberflächliches, das einigen Betroffenen gemeinsam ist, aber sie trifft das Wesentliche nicht. In der Tiefe hat jeder seine eigene Krankheit, die geprägt wird von seiner Konstitution, seinem Temperament, seiner Erziehung und seiner Lebensweise.

Erst im 16. Jahrhundert sei der Versuch unternommen worden, Krankheiten zu personifizieren wie das Böse mit dem Teufel. Seit jener Zeit habe sich die Vorstellung durchgesetzt, Krankheit sei so etwas wie ein haariges, wildes Monster, das den Menschen befalle wie ein Parasit. Das habe entscheidende Auswirkungen auf die Therapie gehabt. Während man früher davon ausgegangen sei, man könne das in Unordnung geratene Gleichgewicht durch eine Rückkehr zu einer vernünftigen Lebensweise wieder herstellen, versuche man jetzt, die Krankheit auszurotten wie Unkraut in einem Garten.

Diese Überlegungen gaben mir zu denken. Auch ich war bisher davon ausgegangen, daß alles gewonnen sei, wenn man nur endlich den Erreger der MS gefunden hätte. Aber könnte Ivan mit seiner Ansicht nicht recht haben, daß das Virus nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung dafür ist, ob jemand erkrankt? Daß noch etwas hinzukommen muß? Und daß dieser Faktor etwas mit unserer Lebensweise zu tun haben könnte?

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