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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Wer war Jacqueline du Pré? (Teil 2)

Die Märchenhochzeit: Jacqueline heiratet Daniel Barenboim

Weihnachten 1966 lernt Jackie den berühmten Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim kennen. Beide verlieben sich sofort ineinander. Auf eigenen Wunsch konvertiert Jackie zum Judentum. Als sich die Nah-Ost-Krise zuspitzt, sagen beide alle Termine ab und fliegen nach Israel, um für die Soldaten zu spielen. Einige ihrer Konzerte finden auf der Ladefläche von Armeelastwagen nahe der Front statt. Und sie bleiben auch, als der Sechs-Tage-Krieg ausbricht. Kurz danach heiraten sie in Jerusalem. Es ist wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Ihre romantische Ehe steht im Zentrum des öffentlichen Interesses.

Zunehmende Erschöpfung und Beginn der Krankheit

Aber ohne Unterbrechung geht das aufregende Leben weiter. In der Konzertsaison 68/69 reist sie durch ganz Europa, nach Kanada und in die USA. Eine Welttournee mit Auftritten in New York, Australien, Neuseeland, Israel und Italien schließt sich an. Für Jacqueline bedeutete das eine enorme Anstrengung. Das lag nicht zuletzt daran, dass ihre Spielweise sehr impulsiv war, mit wehenden Haaren, ungestümen Bewegungen des Bogens und leidenschaftlichen Verrenkungen des Körpers. Damit man nicht durch ihr elegantes Abendkleid sehen konnte, wie sehr sie schwitzte, trug sie eine wollene Weste um den Bauch gebunden, die den Schweiß aufsaugen sollte.

Jacqueline fühlte sich auf der ganzen Reise furchtbar müde. Die Zeitverschiebung beim Fliegen erschöpfte sie, trotzdem konnte sie nachts nicht einschlafen. Ihr Mann merkte natürlich, dass es ihr nicht gutging, aber er meinte, dass eine professionelle Musikerin die Disziplin haben müsse, so etwas durchzustehen. In Australien suchte sie einen Arzt auf, weil sie auf dem rechten Auge gelegentlich Doppelbilder sah. Der Arzt tat ihre Symptome als Nervenschwäche ab und schlug ihr vor, sich ein entspannendes Hobby zu suchen.

Ehekrise

Eine Woche später spielt sie in New York das Elgar-Konzert. Pablo Casals, der hinter der Bühne zuhört, ist zu Tränen gerührt. Eine Freundin berichtet aus dieser Zeit: „Ich spürte vor allem ihre Traurigkeit und Einsamkeit. Ich hatte den Eindruck, dass es mit ihrer Ehe nicht zum Besten stand.“

Teufelskreis

Unsichtbar für alle anderen merkte Jacqueline, wie ihre Kräfte langsam nachließen. Sie sah gesund aus und meistens fühlte sie sich auch wohl, dann aber, plötzlich, ohne Vorwarnung, war es ihr, als würde ihr alle Kraft aus dem Körper gesogen, so wie in einem Traum, in dem man versucht, mit bleiernen Beinen zu laufen.

Sie konsultierte verschiedene Ärzte und fragte sie um Rat, auch wegen anderer mysteriöser Symptome, ein Kribbeln und ein Taubheitsgefühl in den Fingern, das Gefühl, dass ihr Fuß morgens, wenn sie aufwachte, wie erfroren war, und wandernde Schmerzen und Missempfindungen. Es gab Zeiten, da hatte sie nicht die Kraft, ein Fenster oder sogar nur ihren Cellokasten zu öffnen. Die Symptome kamen wie angeflogen und verschwanden oft so rasch wieder, wie sie gekommen waren, aber wenn es auf der Bühne vor Tausenden von Menschen passierte, wenn sie der größten Anstrengung ausgesetzt war, dann konnte aus einer Minute eine Ewigkeit werden.

Keiner der Ärzte fand Hinweise auf eine körperliche Erkrankung, aber ihre Kraft und ihre Ausdauer schwanden zusehends dahin. Eine Freundin berichtet: „Es war furchtbar zu sehen, wie sie immer schneller und schneller auf dieser Schiene entlang glitt, in dieser endlosen, anstrengenden Routine, aus der sie nicht entfliehen konnte.“ Nicht zuletzt kam hinzu, dass ihr Mann, der Müdigkeit nicht kannte, Schwierigkeiten hatte, ihren Zustand ernst zu nehmen, da sie nach Ansicht der Ärzte völlig gesund war.

Erkrankung des Vaters

In dieser Zeit kommt eine familiäre Sorge hinzu: Ihr Vater erkrankt im Herbst 1970 an Gelbsucht. Die Leberbiopsie ergibt ein niederschmetterndes Ergebnis: Die Leber ist voller Krebs. Jacqueline kümmert sich liebevoll um ihren Vater, versucht ihn aufzumuntern, wacht Tag und Nacht an seinem Bett. Langsam bessert sich sein Zustand. Die Biopsie wird wiederholt. Die Ärzte können es kaum fassen: Er ist geheilt, die Leber ist völlig gesund. Alle sind froh. Es ist wie ein Wunder, aber kurze Zeit später stürzt Jackie in eine tiefe Depression und muss alle weiteren Konzerte absagen.

Depressionen

Natürlich gab es sofort Gerüchte über ihre Konzertpause: sie sei neurotisch, hätte einen Nervenzusammenbruch, ihre Ehe stehe kurz vor dem Scheitern. Einige schieben ihre Koordinationsstörungen auf ein Alkoholproblem. Da sie kerngesund aussah, war es nahe liegend, ihre Schwäche als Bequemlichkeit oder Depression zu deuten.

Tatsächlich war Jacqueline tief deprimiert, aber das war die Folge, nicht die Ursache ihrer Erkrankung. Sie hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ihre Stimmungen unterlagen einem besorgniserregenden Auf und Ab. In einem Moment spielte sie ausgelassen mit den Kindern, im nächsten lag sie im Bett und konnte nicht aufhören zu weinen. Sie nimmt Antidepressiva. Ihre Eltern will sie weder sehen noch sprechen, stößt ihre Mutter zum allerersten Mal von sich, sprühend vor Hass und Verachtung. Sie lebt in der Familie ihrer Schwester, teilt sich mit ihr deren Mann und kann nur mit Mühe dazu ermuntert werden, Cello zu üben. Über allem liegt die beklemmende Atmosphäre von Unaufrichtigkeit: Alle wissen, was sich zwischen Jackie und ihrem Schwager abspielt, aber niemand spricht darüber.

Fünfmal in der Woche suchte sie Dr. Walter Joffe auf, einem Psychoanalytiker der Freudschen Schule. Sie erwähnt ihm gegenüber, dass sie bisweilen an Armen und Beinen und später auch an den Fußsohlen Taubheitsgefühle habe. Er meinte, es könnte ein unbewusster Widerstand sein gegen das Ausgraben ihrer schmerzlichen Vergangenheit sein und dagegen, dass sie zu den Sitzungen bei ihm immer eine lange Fußstrecke zurückzulegen habe.

Welchen Sinn hat es, die Diagnose einer MS so früh wie möglich zu stellen?

An dieser Stelle erinnerte ich mich daran, wie mich Ivan Illich einmal etwas spöttisch gefragt hatte, warum ich so stolz daraufsei, eine MS so früh wie möglich diagnostizieren zu können? Werde damit nicht unnötig ein Schatten über das Leben eines jungen Menschen geworfen, bei dem es vielleicht bei einem einzigen Schub bliebe? Sei es nicht ein gefährlicher Zug der Medizin, den Krankheitsbegriff immer weiter auszudehnen, und durch die Verfeinerung der Diagnostik Menschen mit kleinsten Normabweichungen zu beunruhigen?

Ich war ihm damals die Antwort schuldig geblieben, sah auch die Gefahr, dass die Menschen immer kränker werden, weil die Diagnostik immer subtiler wird. Aber jetzt, am Beispiel von Jacqueline du Pré schien mir das Gegenteil deutlich zu werden. Wie viel Leid hätte dieser Frau durch eine frühe Diagnose erspart werden können? Und möglicherweise hätte sie die Kenntnis der Diagnose auch veranlassen können, ihr Leben so zu ändern, dass die Krankheit weniger aggressiv verlaufen wäre. Aber so nahm das Schicksal seinen Lauf. Zunächst schien es sogar, als könne alles gutgehen.

Neue Hoffnung

Mitte Dezember erwachte Jacqueline eines Morgens in ihrem Haus in Hampstead und fühlte sich so wohl, daß sie ihr geliebtes Cello aus seinem Kasten nahm und zu spielen begann, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Vier Tage lang arbeitete sie und ihr Mann an Chopins Cellosonate in g-moll. Rasch wurde ein Aufnahmestudio gemietet und die Sonate in erstaunlich kurzer Zeit aufgenommen. Als sie am zweiten Tag fertig waren, schlug sie überschäumend vor, die Beethoven-Sonaten einzuspielen. Sie begannen mit dem ersten Satz von op. 5, Nr. l. Aber plötzlich sah sie sehr müde aus, packte ihr Cello in seinen Kasten und sagte, sie fürchte, das sei genug für heute. Mit 26 Jahren, einem Alter, in dem die meisten Musiker nicht einmal begonnen haben, Aufnahmen zu machen, war das ihr letzter Besuch in einem Aufnahmestudio gewesen.

Im Juni 1972 schien sie sich so weit erholt zu haben, dass ihre Agentur ankündigte, sie würde wieder öffentlich spielen. Ihr Londoner Comeback fand am 24. September statt. Sie war nervös. Sie spielte das Geister-Trio von Beethoven. Die Kritik war begeistert. Eine ihrer Freundinnen sagte: „Wie haben alle geweint; es war so leidenschaftlich. Ich weiß nicht, ob sie zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass alles schiefgehen würde. Es war eine betörende Aufführung. Sie legte alles in die Musik, was sie hatte.“

Wahrscheinlich ahnte sie, dass es schiefgehen würde. Sie bemerkte dieselben Symptome, schob diese aber zunächst auf den Stress zurück, der mit der Wiederaufnahme ihrer Karriere verbunden war, und versuchte sich verzweifelt einzureden, sie würden mit der Zeit von selbst wieder zurückgehen.

„Hergestellt von Krüppeln“

Vielleicht sollte erwähnt werden, dass es im Dezember 1972 zu einem merkwürdigen Zwischenfall kam und zwar anlässlich eines Galadiners des Verbandes, dem ihr Vater vorstand. Es fand im Hilton-Hotel in London statt, und da es die letzte große Veranstaltung vor seiner Pensionierung und sie für ihn sehr wichtig war, kam auch Jacqueline. Alle betrachteten sie voll ehrfürchtiger Scheu. Wer sie kannte, wusste, dass ihr die steife, förmliche Atmosphäre gegen den Strich ging und sie garantiert dazu verleiten würde, einen Streich auszuhecken. Ihr Vater hielt wie üblich eine hervorragende Rede, und danach sagten auch andere Mitglieder der Vereinigung ein paar Worte.

Währenddessen langte Jackie über den Tisch und nahm ein Briefchen Streichhölzer aus einem Aschenbecher. Verstohlen hantierte sie unter dem Tischtuch damit herum. Dann bat sie um einen Stift. Mittlerweile waren alle von dem heimlichen Treiben so abgelenkt, dass niemand mehr auf die Reden hörte. Was hatte sie nur vor? Sie gab dem wichtigsten Gast am Tisch das nun merkwürdig dicke, verbeulte Briefchen und wartete gespannt auf seine Reaktion. Schon hörte man erwartungsvolles unterdrücktes Kichern. Was stellte die große Jacqueline du Pré wohl wieder an? Als der Gast das Päckchen öffnete, sah er die verbogenen und verkeilten Streichhölzer darin und las, was Jackie dazu geschrieben hatte: „Hergestellt von einem Krüppel." Alle schwiegen schockiert.

Die letzten öffentlichen Auftritte

Einen Monat später stand sie zum letzten Mal zusammen mit Daniel Barenboim auf der Bühne. Verwirrt und enttäuscht schrieb ein Kritiker in der New York Times: „Das Spiel von Miss du Pre war von kratzenden Geräuschen, jaulenden Lagenwechseln, wild angerissenen (und häufig fehlenden) Tönen gekennzeichnet, und von einem übertriebenen Vibrato in den Pizzikatopassagen, das den Charme eines gespannten Gummibandes hatte. Vereinzelte Stellen waren von einer überirdischen Schönheit, aber diese fügten sich nirgendwo in ein durchgehendes Muster.... Trotz der technischen Fehler und der interpretatorischen Übertreibungen konnte man immer noch eine Künstlerin mit einem großen Talent spüren und eine Persönlichkeit von mitreißender Vitalität.“ Gedemütigt kehrte Jacqueline nach London zurück und mit der Hilfe ihres Psychoanalytikers schaffte sie es, ihr Selbstbewusstsein zurückzuerlangen und spielte in der Londoner Festival Hall noch einmal das geliebte Elgar-Konzert.

Derselbe Kritiker, der vor 12 Jahren vor Begeisterung glühend über ihr Debüt geschrieben hatte, schrieb nun eine berührende und unbeabsichtigte Nachrede auf ihre Karriere: „Es war schön, Jacqueline du Pré wieder in der Royal Festival Hall zurück zu haben. Sie spielte das Elgar-Konzert. Obwohl die Zeit und ihre schlechte Gesundheit ihr momentan etwas von ihrer technischen Sicherheit genommen haben, hat sie vieles wiedererlangt von der Reife des Verständnisses und der Innerlichkeit, als sie die persönlichste und bedrückendste Musik vortrug, die Elgar je geschrieben hat. Jacqueline hat dieses Konzert immer wundervoll gespielt, aber oft auch mit einer Art virtuoser Liebe zu ihrem Instrument, das einer in sich gekehrten Reflektion entgegenstand. Bei dieser Gelegenheit spielte sie mit einer Hingabe, die für eine so junge Künstlerin erstaunlich ist, und in der Musik kam etwas von einem Sonnenuntergang zum Ausdruck, der das Ende einer Epoche andeutete. Der helle Tag ist vorüber, die Nacht bricht an.“

Die Katastrophe

Ein paar Tage später flog sie nach New York, wo der Alptraum, den sie am meisten fürchtete, Wirklichkeit wurde. Sie sollte das Doppelkonzert von Brahms zusammen mit Pinchas Zukerman spielen. Leonard Bernstein dirigierte.

Als sie zur Probe kam, brauchte sie Hilfe, um ihren Cello-Kasten zu öffnen. Während der Probe spürte sie die Saiten nicht mehr und hatte keine Kontrolle über den Bogen. Sie fühlte sich erschreckt, schuldig und beschämt, und sie teilte Bernstein mit, dass sie die Aufführung nicht schaffen könne, aber Bernstein, der alles für ein reines Nervenproblem hielt, überredete sie trotzdem zu spielen.

Jacqueline ging an diesem Abend mit dem Gefühl auf die Bühne, zur Guillotine geführt zu werden. Ihre Arme waren schwach, ihre Finger taub. Sie wusste, dass es ihre einzige Chance war, ihre Finger mit den Augen zu steuern, um visuell abzuschätzen, wie viele Zentimeter sie sie von Note zu Note voreinander setzen musste. Am Ende der endlosen Aufführung brach sie zusammen.

Bernstein brachte sie zu einem Arzt. Wieder lautete die Diagnose: Stress. Am nächsten Tag sagte sie alle Konzerte in Amerika ab und flog nach Hause. Vor ihr lagen sieben schreckliche Monate, bis es endlich herauskam, dass sie eine MS hatte.

Gespräch im ICE auf der Rückfahrt: Gibt es einen bestimmten Persönlichkeitstyp, der die MS anzieht wie ein Magnet?

Auf der Rückfahrt nach Kassel nahm ich die Gelegenheit wahr, mit meinem Freund über das zu sprechen, was ich gelesen hatte und nicht richtig einordnen konnte. Im Nachhinein muss man davon ausgehen, dass die ersten Symptome bereits vier Jahre zuvor, also 1969 aufgetreten waren, als sie den Arzt in Australien wegen der Doppelbilder aufsucht hatte. Warum war die Diagnose so lange verfehlt worden?

Für meinen Freund war der Grund offensichtlich: Weil sie „knallhysterisch" war. Als „hysterisch" wird jemand bezeichnet, der gern auffällt, der immer im Mittelpunkt stehen will, der ausgefallene Kleidung bevorzugt, immer zu spät kommt und trotzdem ein gerngesehener Gast auf allen Partys ist, weil er die Menschen durch seine unkonventionelle Art mitreißt und bezaubert. Ich erwähne diesen Begriff, weil er zu viel Missverständnissen und Unrecht geführt hat und weiterhin führt, gerade im Zusammenhang mit der MS. Ich will mich auf zwei Irrtümer beschränken: l. Wer hysterisch ist, neigt dazu, sich durch körperliche Symptome wichtig zu machen; und 2. Der hysterische Mensch ist ein glücklicher Mensch.

Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Noch vor 30 Jahren war es praktisch unmöglich, eine MS durch Liquoruntersuchungen zu beweisen, und die bildgebenden Verfahren gab es damals auch noch nicht. Man war bei der Diagnose auf das bunte Erscheinungsbild der wechselnden Symptome, die sich in unregelmäßigen Abständen ausbildeten und wieder verschwanden, angewiesen. So überrascht es nicht, dass die MS lange Zeit die Krankheit war, die am häufigsten als Hysterie verkannt wurde.

Tatsächlich gibt es bei einigen MS-Patienten Wesenszüge, die leicht mit einer Hysterie verwechselt werden können. Dabei handelt es sich um etwas schwer Beschreibbares, etwas Quecksilbriges und Hochsensibles, gepaart mit einer heiteren Gemütsart und einer Neigung, körperliche Symptome zu bagatellisieren. Diese Persönlichkeitsstruktur ist sicher nichts Spezifisches, und ich kenne viele Ausnahmen, aber sie kommt doch überdurchschnittlich häufig vor.

Jacqueline war von ihrem Ehemann immer „Smiley" genannt worden, weil er niemals jemanden getroffen habe, der so viel lache. Aber das täuschte. Ihr Leben lang war ihr Lachen eine undurchdringliche Maske. Auch wenn der MS-Kranke seine Diagnose noch nicht kennt, fühlt er, dass da etwas Unverständliches in seinem Körper geschieht. Er versucht sich zu wehren, geht pfeifend oder summend durch die Räume, lacht bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um sich abzulenken, um nicht ständig an das denken zu müssen, was ihn im Grund seiner Seele ständig beunruhigt und quält. Er spielt „Tapfersein“, wie z.B. ein Mensch, der nachts laut singend durch einen dichten Wald geht, um seine Angst zu verdrängen.

Was der französische Neurologe Charcot auch als „belle indifference“, als „schöne Gleichgültigkeit“ bezeichnet hat, beruht auf einem Irrtum. MS-Kranke sind nichts weniger als gleichgültig, sie leiden unter der ständigen Bedrohung, die wie ein Schwert über ihnen schwebt, aber sie wollen es sich nicht anmerken lassen.

Jeder von uns hat hysterische Anteile in geringerer oder stärkerer Ausprägung: der Schuss Sekt in unserem Blut, der uns quirlig, manchmal aber auch etwas anstrengend macht. Bei Jacqueline haben die hysterischen Wesenszüge sicherlich weit überwogen, aber man muss wissen, dass ein hysterischer Mensch nichts weniger als ein glücklicher Mensch ist. Oft ist er jemand, der sich nicht um seiner selbst willen geliebt fühlt, der meint, er müsse eine liebenswerte Person spielen, weil er selbst nicht liebenswert ist. Seine Fröhlichkeit ist ein Tanz am Abgrund, und wenn es einen Zusammenhang zwischen seiner Charakterstruktur und seiner Krankheit geben sollte, dann ist dieser eher unspezifischer Art und besteht darin, dass er in besonderer Weise dazu neigt, seine Kräfte falsch einzuschätzen und sich ständig zu verausgaben.

Das Ende

Jacquelines Krankheit schreitet rasch fort. Bald kann sie das Haus nur noch in ihrem Rollstuhl verlassen. Freunden und Bekannten, die sie immer seltener besuchen, spielt sie ihre Schallplattenaufnahmen vor. Wenn andeutungsweise das Gespräch auf ihren Mann kommt, der in Paris mit einer Pianistin zusammenlebt, scheint sie das zu überhören.

Anfänglich war sie noch immer gern im Taxi in die Stadt gefahren, um in Modegeschäften schöne Sachen anzuprobieren. Aber auch das wurde immer seltener. Wenn sie es dennoch tat, war sie der Neugier ihrer Mitmenschen hilflos ausgeliefert. Auch wenn ihr eingeschränktes Sehvermögen es ihr ersparte, die Blicke wahrzunehmen, die ihr folgten, so hörte sie doch, wenn geflüstert wurde: „Ist das Jacqueline du Pré? Ich dachte, sie wäre schon längst tot!“

Ab und zu erschien sie noch zu öffentlichen Ehrungen. Sie trug wie immer wundervolle Kleider und herrlichen Schmuck. Ihr langes Haar hatte noch immer einen seidigen Schimmer, und ihr Lächeln war nach wie vor strahlend und unwiderstehlich. Ein halbes Dutzend Universitäten verliehen ihr Ehrentitel. Das Sprechen fiel ihr immer schwerer, aber Kommunikation war für sie lebenswichtig, und sie wiederholte geduldig ihre Wörter oder buchstabierte sie, bis sie ihr Besucher verstand oder verzweifelt das Thema wechselte.

Ende 1986 überlebte sie wider Erwarten eine beidseitige Lungenentzündung. Danach schwächten sie wiederholte Infektionen, so dass selbst das Atmen zu einer großen Anstrengung wurde.

Am 19. Oktober kam es wiederum zu einer Pneumonie, dieses Mal gab es keine Hoffnung mehr. Sie war 42 Jahre alt. Daniel Barenboim wurde aus Paris geholt, ihr Psychoanalytiker, ihr alter Cellolehrer Anthony Pleeth und andere alte Freunde kamen an ihr Sterbebett, um von ihr Abschied zu nehmen. Mittags verlor sie das Bewusstsein. Spät an dem langen, grauen Nachmittag legte Pleeth ihre Aufnahme vom Schumann-Cellokonzert auf das Grammophon, weil er hoffte, die Musik könne ihre scheidende Seele noch erreichen.

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