Frage der Woche - Archiv
MS - Wem nützt die 'integrierte Versorgung'? (Teil 1)
Zu diesem Thema hat der 'Blickpunkt' in seiner Ausgabe 3/05 ein Gespräch mit Dr.W.Weihe abgedruckt, das hier
aus aktuellem Anlaß nochmals im Wortlaut wiedergegeben wird. Weil das Interview recht umfangreich ist, werden wir es
in zwei Teilen ins Netz stellen.
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Der 'Blickpunkt' ist die Zeitschrift der 'Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V.'
(MSK).
Im Juli dieses Jahres hat die BARMER Ersatzkasse in Hessen mit dem MS-Zentrum des Universitätsklinikums Gießen einen Vertrag zur Integrierten Versorgung von MS-Patientinnen und -Patienten geschlossen. Es handelt sich um ein Modellprojekt. Merkmale dieses Versorgungskonzeptes sind eine zentrale Behandlungsplanung, Koordination und Steuerung aller diagnostischen und therapeutischen Prozesse durch das MS-Zentrum und neurologische Schwerpunktpraxen, der Einsatz einheitlicher evidenzbasierter Leitlinien und eine kontinuierliche personelle Betreuung der Erkrankten durch spezialisierte MS-Krankenschwestern. Wir konnten zu diesem Thema das folgende Gespräch mit Herrn Dr. med. Weihe führen.
Blickpunkt: Die BARMER hat zusammen mit dem Leiter des MS-Zentrums Gießen, Professor Patrick Oschmann, ein Projekt gestartet, das sich „integrierte Versorgung von MS-Patienten“ nennt. Handelt es sich hierbei um ein Disease-Management-Programm?
Weihe: Es mag sein, dass man diesen Begriff vermeiden wollte, weil er einen unangenehmen Beigeschmack hat. Mich lässt das Wort „Disease-Mangement-Programm“ immer leicht erschaudern. Es kann ja kein wünschenswertes Ziel sein, einen kranken Menschen in ein „Programm“ zu stecken und „eine Krankheit zu managen“, sondern es muss darum gehen, die Patienten in ihrer Individualität ernst zu nehmen und ihre Lebensphilosophie und persönlichen Wünsche bei der Behandlung mit zu berücksichtigen.
Blickpunkt: Disease-Management-Programme sind ja ein Lieblingskind der Bundes-gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihres Beraters Prof. Lauterbach. Diese Programme wurden für chronische Krankheiten entwickelt, die häufig sind, deren Behandlung auf dem Boden von evidenzbasierten Leitlinien standardisierbar ist und die einer multimodalen Therapie bedürfen, also einer engen Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, verschiedenen Fachärzten und Therapeuten. Aber dies trifft ja nur zu einem kleinen Teil auf die MS zu: Sie ist im Vergleich zu der koronaren Herzkrankheit und dem Diabetes mellitus nicht besonders häufig, gilt als eine der individuellsten Krankheiten und evidenzbasierte Leitlinien kommen zu widersprüchlichen Empfehlungen. Kann ein solches Programm bei der MS überhaupt funktionieren?
Weihe: Das ist die Frage. Sogar beim Diabetes mellitus, bei dem eine Standardisierung relativ einfach erscheint, haben sich die Erwartungen bisher nicht erfüllt: Ärzte klagen, die Programme seien zu bürokratisch und praxisfern, die Patientenzufriedenheit sei gering und die Ergebnisse bei gestiegenen Kosten schlecht. Programme sind eben Programme, sie passen auf einen mehr oder weniger großen Teil der Betroffenen, der Rest fühlt sich unbehaglich wie in einer Schublade oder in einem Prokrustes-Bett. Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist die MS mit ihren „1000 Gesichtern“ sicher der denkbar ungeeignetste Kandidat für ein Disease-Management-Programm.
Blickpunkt: Können Sie unseren Lesern schildern, wie die integrierte Versorgung von MS-Betroffenen konkret aussieht?
Weihe: Soweit ich weiß, zahlt die Krankenkasse pro MS-Patient, der in dem Programm mitmachen will, eine Pauschalsumme in der Größenordnung von 10.000 Euro pro Jahr. Damit ist alles abgedeckt: die medikamentöse Behandlung, stationäre Aufenthalte, Krankengymnastik und Ergotherapie usw. Alle Patienten verpflichten sich, sich im MS-Zentrum der Uni Gießen bzw. in den fünf MS-Schwerpunktpraxen, die mit diesem kooperieren, behandeln zu lassen. Wenn die ambulante Therapie nicht ausreicht, werden sie in der neurologischen Universitätsklinik Gießen behandelt und im Falle einer Rehabilitation in der Schlossbergklinik in Bad Laasphe. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind mobile, auf Multiple Sklerose spezialisierte MS-Krankenschwestern, die Patienten in ihrer Wohnung aufsuchen und beraten. Durch sie findet auch der Erstkontakt im MS-Zentrum statt, indem sie sich nach dem aktuellen Befinden erkundigen, individuell in sozialen Fragen und zu besonderen Pflegemaßnahmen beraten und auch die Injektionstechniken überprüfen, um etwaige Probleme diesbezüglich mit dem Patienten zu klären. Dazu sollen in einem nächsten Schritt ausgewählte krankengymnastische und ergotherapeutische Praxen kommen.
Blickpunkt: Für viele MS-Betroffene ist die persönliche Beziehung zu ihrem Arzt und ihren Therapeuten besonders wichtig. Sie haben im Lauf der Zeit „ihren“ Neurologen gefunden, mit dem sie vertraut geworden sind und den sie zu „nehmen“ wissen. Dasselbe gilt, vielleicht sogar in noch höherem Maß, für die Krankengymnastin. Für die meisten wäre es eine Horrorvorstellung, wenn sie damit rechnen müssten, immer an einen anderen Arzt zu geraten oder sogar die Krankengymnastin oder Ergotherapeutin vorgeschrieben zu bekommen. Sind solche Befürchtungen wirklich ganz von der Hand zu weisen?
Weihe: So wie ich Herrn Oschmann kenne, sieht er dieses Problem und wird sich alle Mühe geben, die Kontinuität der ärztlichen und z.B. krankengymnastischen Betreuung zu gewährleisten. Ob das in jedem Einzelfall möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Allerdings ist vorgesehen, dass Patienten einmal im Quartal den Neurologen wechseln dürfen. Außerdem gibt es eine Beschwerdestelle, in der Probleme in der Patient-Arzt- oder Patient-Therapeuten-Beziehung besprochen werden können.
Blickpunkt: Was hat ein MS-Betroffener eigentlich davon, wenn er sich in dieser Weise einschränken, ja geradezu entmündigen lässt?
Weihe: Nach Ansicht der Befürworter sind es im Wesentlichen drei Vorteile: Er wird von bestausgebildeten Ärzten auf höchstem Niveau behandelt, die Therapie bildet ein homogenes Ganzes, indem die Zusammenarbeit vom Neurologen über den Urologen bis hin zur Krankengymnastik und Rehabilitation eng miteinander verzahnt ist, und jedem Teilnehmer an dem Projekt werden bis zu 150 Euro pro Jahr an Praxisgebühren usw. zurückerstattet.
Blickpunkt: Wenn Sie das so schildern, bekommt man direkt etwas Atemnot. Diese Kompetenz und Kooperation mag ihre guten Seiten haben, aber sie hat auch etwas Bedrückendes. Hinter der integrierten Versorgung steht doch sicherlich ein Konzept, ein Regelwerk, auf das alle Therapeuten eingeschworen werden?
Weihe: Ja. Grundlage der Behandlung in der Integrierten Versorgung ist die „immunmodulatorische Stufentherapie“. Diese Leitlinie wurde von deutschen, österreichischen und schweizerischen MS-Experten, die sich 1999 zur Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) zusammengeschlossen haben, entwickelt. Das zugrunde liegende Prinzip lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Mittel der ersten Wahl sind die Betainterferone, wobei keinem der zur Verfügung stehenden Präparate (Betaferon®, Rebif® oder Avonex®) der Vorzug gegeben wird. Erst in zweiter Linie kommen Glatirameracetat (Copaxone®), intravenöse Immunglobuline und Azathioprin in Frage. Wenn die Krankheit durch diese Mittel nicht zu bremsen ist, werden als zweite Stufe Mitoxantron und als letzter verzweifelter Versuch das härtere Krebsmittel Cyclophosphamid (Endoxan®) eingesetzt.
Blickpunkt: Werden die MS-Patienten über diesen zentralen Punkt unmissverständlich informiert, bevor sie den Vertrag zur Teilnahme an der Integrierten Versorgung unterschreiben?
Weihe: Ich kann es nur hoffen!
Blickpunkt: Sie haben ja schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die „Immunmodulatorische Stufentherapie“ der MSTKG keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stößt.
Weihe: Die Empfehlungen der MSTKG sind umstritten, weil es einerseits zwischen den Mitgliedern der Konsensusgruppe und den Herstellerfirmen der empfohlenen Medikamente eine zu große Abhängigkeit gibt, und andererseits die Empfehlungen keineswegs international akzeptiert sind. Während die MSTKG empfiehlt, bei der schubförmigen MS möglichst frühzeitig eine Dauertherapie mit Betainterferonen einzuleiten, um den langfristigen Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen, kam die von der Pharmaindustrie unabhängige und international hochangesehene Cochrane Collaboration 2005 in einer Metaanalyse aller vorliegenden Betainterferon-Studien zu dem Schluss: „Die Wirksamkeit der Betainterferone auf Schübe und Krankheitsprogression bei Patienten mit schubförmig verlaufender MS war nach ein und zwei Behandlungsjahren mäßig. Eine längere Beobachtungsdauer und eine einheitlichere Darstellung der klinischen und kernspintomographischen Befunde hätte vielleicht eine überzeugendere Schlussfolgerung erlaubt.“ Prof. Mühlbauer, der Leiter des Instituts für klinische Pharmakotherapie in Bremen, schrieb 2004 in einer Expertise an die Kassenärztliche Vereinigung: „Nachgewiesen ist bisher ein therapeutischer Effekt von Interferon bei der schubförmig remittierenden Form, aber auch hier müssen Einschränkungen beachtet werden. So ist ein therapeutischer Effekt, der über die Behandlungsdauer eines Jahres hinausgeht, nicht gesichert. Außerdem wurde bisher lediglich nachgewiesen, dass die Behandlung die Frequenz der Schübe verkleinert, nicht jedoch die Progredienz der Erkrankung an sich verlangsamt.“ Noch entmutigender fällt ihre Stellungnahme zu Copaxone® aus.
Blickpunkt: Damit kommen wir zur Frage, wie der Einfluss der Medikamentenhersteller auf das Verordnungsverhalten der Ärzte in der integrierten MS-Versorgung kontrolliert werden kann.
Weihe: Die Ärzte in den MS-Zentren und MS-Schwerpunktpraxen sind in aller Regel Mitglieder im ärztlichen Beirat der DMSG, und die DMSG macht kein Geheimnis daraus, dass ihre Beziehungen zur Pharmaindustrie eng sind. Einen kleinen Eindruck gewinnt man, wenn man die Liste der Interessenskonflikte einiger DMSG-Ärzte im Deutschen Ärzteblatt liest: „Prof. Gold hat Vortragshonorare erhalten von den Firmen Bayervital, Biegen, Schering, Serono, Sanofi-Aventis, Teva und Wyeth. Er war Leiter der klinischen Prüfung (LKP) für Studien der Firmen Bayervital, Biogen und Teva, und ist derzeit LKP für die Wyeth-Studie MIMS II. Prof. Gold erhielt Forschungsunterstützungen von den Firmen Biogen, Schering, Serono, Sanofi-Aventis und Teva. FrauJun.-Prof. Stadelmann erhielt Honorare für Vorträge im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für die Firmen Biogen, Schering, Serono und Teva. Prof. Brück erhielt Honorare für Vorträge bei Fortbildungsveranstaltungen der Firmen Aventis-Teva, Biogen, Schering und Serono sowie Forschungsunterstützungen von der Firma BiogenIdec. Prof. Bahr und Frau Dr. Diem haben Forschungsunterstüzungen erhalten von den Firmen BiogenIdec, Serono, Schering und Teva. Ich fürchte, der Einfluss der Pharmaindustrie ist kaum zu überschätzen
Blickpunkt: Es besteht also die Gefahr, dass es bei der integrierten Versorgung von MS-Betroffenen zu einem Übergewicht der medikamentösen Therapie kommt?
Weihe: Natürlich. Wir dürfen allerdings nicht übersehen, dass die Argumente für eine immunmodulatorische Therapie verführerisch überzeugend sind: Erstens wird behauptet, die MS sei eine unberechenbare und heimtückische Krankheit, und man unterliege einer gefährlichen Täuschung, wenn man von „gutartigen“ Verläufen spreche. In Wirklichkeit gebe es nur eine trügerische Ruhe zwischen den Schüben, während der der Zerstörungsprozess unter der Oberfläche wie ein Schwelbrand unaufhörlich fortschreite. Und zweitens wird gesagt: Da es praktisch in jedem MS-Herd zu einem erheblichen Axonuntergang komme, müsse man gerade in der Frühphase der Erkrankung, in der die Herdproduktionsrate besonders hoch sei, die Entstehung neuer Herde unterdrücken, um einer späteren Progredienz weitgehend den Boden zu entziehen. So einleuchtend dies klingt, sind die Annahmen entweder falsch oder reine Spekulation. Durch die Verfeinerung der Diagnostik, vor allem durch die Kernspintomographie, werden immer häufiger leichte und leichteste Verlaufsformen diagnostiziert, die sich früher jedem Nachweis entzogen hätten. Damit hat sich die Prognose der MS entscheidend verbessert. Das wird auch durch eine vielbeachtete epidemiologische Studie bestätigt, die kürzlich in NEUROLOGY veröffentlicht wurde. Sie bezieht sich auf 162 MS-Patienten, die 1991 erfasst und neurologisch genau untersucht worden sind. Alle bis auf einen einzigen Patienten konnten nach genau 10 Jahren nachuntersucht werden. Das überraschende Ergebnis war, dass die meisten Patienten, obwohl nur ein geringer Prozentsatz mit Betainterferonen behandelt worden war, stabil geblieben waren oder nur eine minimale Progression zeigten. Die durchschnittliche Verschlechterung des EDSS betrug nach 10 Jahren für die gesamte Gruppe nicht mehr als sage und schreibe einen einzigen Punkt.
Es gibt also ein breites Spektrum von MS-Ver-läufen, das sich von „stummen“ Formen über milde Ausprägungen mit wenigen Schüben bis hin zu aggressiven Verlaufstypen erstreckt. Viele Ärzte sind deshalb der Ansicht, dass eine Behandlung gleich nach dem ersten Schub bei einer großen Zahl der Betroffenen überflüssig wäre, da die Krankheit auch ohne Medikamente einen günstigen Verlauf nehmen würde. Wegen der doch erheblichen Nebenwirkungen müsse die Indikation in jedem Einzelfall sorgfältig abgewogen werden. Ich bin fest davon überzeugt: je mehr Zeit sich ein Arzt bei der Erhebung der Vorgeschichte nimmt und je besser er sich mit der Kernspintomographie auskennt, desto zuverlässiger wird seine Prognose zum Langzeitverlauf sein und desto weniger Immunmodulatoren wird er verordnen.