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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


MS - Wem nützt die 'integrierte Versorgung'? (Teil 2)

Hier ist der zweite Teil des Intervies, das der 'Blickpunkt' zum Thema 'Integrierte Versorgung' mit Dr.W.Weihe geführt hat.

Blickpunkt: In einer unserer früheren Ausgaben berichteten wir über eine Kosten-Nutzen-Analyse, in der errechnet wurde, dass die Behandlung der MS nach der MSTKG-Leitlinie, also der möglichst frühzeitige Einsatz von Immunmodulatoren, den Krankenkassen auf lange Sicht Kosten ersparen würde.

Weihe: Zur Therapie der MS mit Immunmodulatoren liegen verschiedene Kostenanalysen vor. Die Berechnungen sind kompliziert und abhängig vom jeweils gewählten ökonomischen Modell. Die Ergebnisse entsprechen dem Wunsch der Auftraggeber. Wird z.B. eine solche Analyse von einer englischen Gesundheitsbehörde, die eine Kostenexplosion fürchtet, veranlasst, kommt dabei heraus, dass die immensen Kosten in keinem Verhältnis zum fragwürdigen Nutzen stehen (NICE 2002). Ich nehme aber an, dass sich die BARMER an die DMSG gewandt und um entsprechende Modellrechnungen gebeten hat. Einer der Mitglieder des ärztlichen Beirates, Herr Rieckmann, hat eine entsprechende Studie geleitet. Dabei wurden 1000 Patienten per Fragebogen zu den Krankheitskosten im zurückliegenden Jahr befragt. Nur zwei Drittel antworteten. Die ausgewerteten Zahlen sind von dem deutlichen Bemühen geprägt, die Gesamtkosten, die ein MS-Patient pro Jahr verursacht, möglichst hoch anzusetzen. Bei dieser Berechnungsart ergab sich, dass die Betainterferone weniger als 7% der den Krankenkassen entstehenden jährlichen Gesamtkosten für die MS ausmachen. Die Berechnung ist ein statistischer Taschenspielertrick, und die Studie ist dementsprechend heftig angegriffen worden, nicht zuletzt auch deshalb, weil in der Originalveröffentlichung jeder Hinweis fehlt, dass die Studie von der Firma Schering, die Betaferon® herstellt, in Auftrag gegeben und finanziert wurde. Übrigens hat Herr Rieckmann später eine Stiftungsprofessur der Firma Teva-Aventis (Copaxone®) angenommen.

Blickpunkt: Es wird ja so dargestellt, als erhielten die Teilnehmer an der integrierten Versorgung die denkbar beste MS-Therapie, die in einer ständigen Expertendiskussion immer auf den neuesten Stand gehalten werde. Wird hier nicht der Eindruck erzeugt, nur Unvernünftige könnten sich diesem Angebot mtziehen?

Weihe: Wenn es eine Krankheit gäbe, für die eine optimale Therapie existierte, dann könnte man sich überlegen, ob man die Betroffenen mit sanftem Druck zu ihrem Glück zwingen sollte. Aber bei der MS handelt es sich, wie bereits gesagt, um die komplizierteste und individuellste aller Krankheiten. Die derzeitig erzielten Behandlungserfolge sind kläglich und noch meilenweit von den Hoffnungen der Erkrankten entfernt. „Das Besondere am Fortschritt ist, dass er immer größer ausschaut, als er in Wirklichkeit ist“, sagt Nestroy. Das trifft in besonderer Weise auf die immunmodulatorische Stufentherapie der MS zu. Vieles ist unklar. Erstens gerät die Grundannahme, es handele sich bei der MS um eine Autoimmunkrankheit und die experimentelle allergische Encephalomyelitis sei ein geeignetes Tiermodell, zunehmend ins Wanken. Zweitens wird es immer fragwürdiger, ob die Reduktion der Schubzahl oder der Herde im Kernspintomogramm überhaupt etwas mit dem Langzeitverlauf zu tun hat. Drittens sind die Beeinträchtigungen der jungen Menschen durch die Nebenwirkungen der Medikamente beträchtlich (und werden leider heruntergespielt), und viertens bestehen begründete Bedenken hinsichtlich der Langzeitrisiken: Immerhin führen die Betainterferone zu einer Antikörperbildung, die auch die Funktion der körpereigenen Betainterferone, die unter anderem eine Rolle in der Krebsabwehr spielen, beeinträchtigt. In dieser Situation kann man niemanden, der sich zu einer vorsichtigen Zurückhaltung entschließt, als unvernünftig bezeichnen.

Blickpunkt: Neulich sagte uns ein Mitglied, sie habe das Gefühl, es werde eine Treibjagd auf MS-Betroffene veranstaltet, die bisher noch eine Basistherapie ablehnen.

Weihe: Meine Patienten sagen mir dasselbe. Sie werden von gutmeinenden Verwandten und Freunden unter Druck gesetzt, die in der Tageszeitung vom kurz bevorstehenden Sieg der Betainterferone über die MS gelesen haben. Noch unangenehmer ist, wenn sie sich im Fall einer Krankschreibung vor ihren Arbeitskollegen rechtfertigen müssen, die meinen, sie würden weniger oft ausfallen, wenn sie sich behandeln ließen. Bei jedem Arztbesuch müssen sie sich anhören, später würden sie es noch einmal bereuen, so unvernünftig gewesen zu sein, und sie können in kein Krankenhaus gehen, in dem sie nicht vom kleinsten Assistenzarzt angefangen bis zum Chefarzt in gleicherweise bedrängt werden. Die MS-Zentren werden den Druck und die Schuldgefühle weiter erhöhen. Der Patient fühlte sich der geballten Autorität gegenüber hilflos ausgeliefert, die ihm eine Therapie einreden will, vor der ihn seine innere Stimme warnt.

Blickpunkt: Was uns ebenfalls beunruhigt, sind die MS-Krankenschwestern. Welche Funktion sollen sie übernehmen und von wem werden sie ausgebildet?

Weihe: Zunächst dachte ich, speziell ausgebildete MS-Krankenschwestern könnten ein echter Vorteil sein: Sie könnten einspringen, wenn die Wartezeiten in den neurologischen Praxen zu lang sind. Es ist ja ein durch nichts zu rechtfertigender Missstand, dass Patienten, die an sich die Zeichen eines frischen Schubes wahrzunehmen glauben, oft nicht sofort einen Termin bekommen, sondern mehrere Tage oder sogar Wochen warten müssen. Hier könnte die MS-Krankenschwester als Vermittlerin zwischen Patient und Neurologe auftreten und für einen vorgezogenen Termin sorgen. Auch könnte sie die Betroffenen über viele Dinge aufklären, für die der Arzt oft keine Zeit hat. Und sie könnte den Patienten eine stationäre Behandlung ersparen, indem sie die Cortisonstoßtherapie zuhause durchführt. Aber dann kamen mir Bedenken. Kann eine Krankenschwester Aufgaben des Arztes übernehmen? Gerade bei einer Krankheit, die so schwierig ist wie die MS? Ist sie nicht überfordert, wenn sie entscheiden soll, wie dringend eine Vorstellung beim Neurologen ist? Kann sie etwaige Komplikationen bei der Cortison-Stoßtherapie beherrschen? Können ärztliche Aufgaben ohne Qualitätsverlust von noch so guten Krankenschwestern übernommen werden? Und sollen sie entscheiden, wer zum Doktor vorgelassen wird? Vor allem aber, und damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage, wer bildet die MS-Krankenschwestern aus? Sie werden praktisch alle von den Herstellern von Betaferon®, Rebif®, Avonex® und Copaxone® ausgebildet. Alles Vertrauen, das wir einer Krankenschwester entgegen bringen, wird somit dazu missbraucht, Werbung für Medikamente zu machen.

Blickpunkt: Lassen Sie uns zu einem weiteren Argument kommen, das für die integrierte Versorgung sprechen könnte: Nur Ärzte, die sich besonders auf die MS spezialisiert haben, können die MS optimal behandeln. Sie sind selbst ein MS-Spezialist, lieber Herr Dr. Weihe. Stimmen Sie der Aussage zu?

Weihe: Wahr ist, dass ich mich seit 20 Jahren intensiv mit der MS beschäftige. Ich würde mich jedoch nicht als Spezialisten bezeichnen, am ehesten noch als jemanden, der mit der MS durch Erfahrung vertraut geworden ist. Im letzten Jahr wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, einen MS-Übersichtsartikel für Allgemeinärzte zu schreiben. Es war mir wohl bewusst, dass Hausärzte nicht zuletzt deshalb ihr Wissen über die MS auffrischen wollten, um ihre MS-Patienten auch von ihrer Seite aus beraten zu können und nicht alles den Neurologen zu überlassen. Sollte ich dieses Ansinnen unterstützen? Ist es zu verantworten, dass jemand, der nicht Neurologe ist und diese Krankheit nicht häufig sieht, einen Teil der Behandlung übernimmt? Kann das nicht nur Murks geben? Ich meine, man sollte seine eigene Bedeutung nicht allzu sehr überschätzen, und ich habe den Artikel geschrieben. Dabei kommt mir in den Sinn, was ich einmal in einer Podiumsdiskussion gesagt habe und was man mir sehr übelgenommen hat: „Die Mehrzahl der MS-Betroffenen mit einem günstigen Verlauf befindet sich in der Behandlung von Homöopathen und Naturheilkundlern.“ Natürlich meine ich nicht, dass diese wirksamere Medikamente haben, aber - und das ist der Hauptunterschied zur universitären Medizin - sie fügen ihren Patienten durch ihre Therapie keinen zusätzlichen Schaden zu. Spezialisten neigen dazu, mit ihren Muskeln zu spielen und ihre Daseinsberechtigung immer wieder unter Beweis stellen zu wollen. Sie kämpfen gern an vorderster Front, sind die Ersten, die ein neues Medikament erproben wollen, nehmen die Diagnostik sehr genau, machen lieber eine Liquorpunktion und eine Kontrolle des Kernspintomogramms zuviel als zuwenig, leiten „der Ordnung halber“ viertel- oder halbjährlich evozierte Potentiale ab, obwohl diese Untersuchungen keine Bedeutung haben, und dokumentieren den Zustand ihrer Patienten gern in erweiterten Kurtzke-Skalen oder psychologischen Tests. Manche Patienten sind begeistert, die meisten jedoch wollen den Aufwand nicht. Sie wollen in Ruhe gelassen werden und nur dann Hilfe in Anspruch nehmen, wenn Probleme auftreten.

Blickpunkt: Nun behaupten diese MS-Spezialisten, die von ihnen behandelten Patienten schnitten besser ab. Gibt es darüber Untersuchungen?

Weihe: Ja. Eine dieser Studien wurde 2001 in Neurology veröffentlicht. Es wurden MS-Patienten, die von Feld-, Wald- und Wiesenneurologen behandelt wurden, mit denen von MS-Spezialisten verglichen. Es kam dabei heraus, dass sich beide Gruppen in drei Punkten unterschieden: Die Patienten der MS-Spezialisten spritzen sich erstens häufiger Betainterferone, brachen zweitens die Betainterferontherapie seltener ab und fühlten sich drittens von ihren Ärzten gründlicher behandelt. Weitere Unterschiede fanden sich nicht.

Blickpunkt: Man sagt ja: Lasse dich immer von einem Spezialisten behandeln, aber überlasse deinem Hausarzt die Entscheidung, ob die Behandlung überhaupt notwendig ist. Würden iie dem zustimmen?

Weihe: Unbedingt. Das ist wie mit dem berühmten amerikanischen Chirurgen, der als einer der besten Hirnchirurgen der Welt galt. Nur durfte man ihn nie fragen, ob er zur Operation rate, denn er war ein so begeisterter Chirurg, dass er in allen Fällen operierte, auch wenn die Gefahr von Komplikationen den möglichen Nutzen weit überstieg.

Blickpunkt: Damit sind wir beim letzten angeblichen Vorteil der integrierten Versorgung angelangt: die intensivere Betreuung und die bessere Verzahnung von Hausärzten, Neurologen, Klinikärzten und der physikalischen Therapie. Alles soll in einer Hand bleiben. Besteht hier aus Ihrer Erfahrung eine große Patientenunzufriedenheit?

Weihe: Ich finde es manchmal ärgerlich, dass Vorbefunde fehlen oder MRT-Bilder umständlich angefordert werden müssen, aber von den Patienten selbst höre ich in dieser Hinsicht eigentlich keine Klagen. Hier hat sich ja in letzter Zeit viel geändert. Wenn sie Krankengymnastik oder Ergotherapie bekommen, müssen sie mindestens einmal im Quartal zu ihrem Neurologen (meist jedoch öfter), um sich ein neues Rezept zu holen, und dieses wiederum setzt voraus, dass die Therapeuten einen Behandlungsbericht schreiben. Ich kann keine groben Nachteile durch Unterversorgung oder mangelhafte Kommunikation feststellen.

Blickpunkt: Wenn wir Sie richtig verstanden haben, stehen Sie also dem gesamten Projekt der integrierten Versorgung von MS-Patienten skeptisch gegenüber.

Weihe: Nicht ganz. Es ist ein ideales Projekt für eine kleine Gruppe von MS-Betroffenen, die bereit sind, einige Unannehmlichkeiten wie längere Anfahrtswege, längere Wartezeiten, wechselnde Ärzte, häufige Untersuchungen und gewisse Einschränkungen in der Therapiefreiheit in Kauf zu nehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen dafür das Nonplusultra der MS-Therapie geboten wird. Aber es gibt auch noch eine andere Gruppe, die nicht so sehr auffällt, aber die Mehrheit bildet. Sie scheuen die häufigen Injektionen, die Nebenwirkungen und die unbekannten Langzeitrisiken der immunmodulatorischen Therapie, und sie setzen darauf, die Krankheit durch eine Umstellung ihrer Lebensweise und eine „sanfte“ Medizin in den Griff zu bekommen. Im Zentrum der integrierten Versorgung - und das ist der Hauptkritikpunkt - steht eindeutig das von der Pharmaindustrie diktierte Ziel, möglichst viele MS-Betroffene dazu zu bringen, sich mit Immunmodulatoren behandeln zu lassen. Solange die Argumente, die den Segen dieser Medikamente beschwören, allein von den Pharmaherstellern und den von ihnen beeinflussten Ärzten kommen, sollten die Krankenkassen wachsam sein. Es gibt keine einzige ernstzunehmende Studie, die den Wert dieser Therapie für den Langzeitverlauf der MS - und darauf kommt es im Wesentlichen an - belegt. Die in diesem Zusammenhang häufig zitierten unkontrollierten Auswertungen von Teilnehmern von Therapiestudien, die sich trotz der Nebenwirkungen über die Studiendauer hinaus weiter Betainterferone spritzen (z.B. PRISMS-4), sind statistisch nicht haltbar und nicht besser als das Siegel „wissenschaftlich geprüft“ auf einem Haarshampoo.

Die Angst und die Ratlosigkeit der Neubetroffenen dürfen nicht ausgenutzt werden, um sie zu lebenslangen Kunden einer ungesicherten, nebenwirkungsreichen und möglicherweise riskanten Therapie zu machen, die ja auch - und das wird viel zu wenig beachtet - keine Schwangerschaft zulässt bzw. jede Schwangerschaft, deretwegen man die Medikamente absetzt, mit Ängsten belastet. Wer neubetroffen ist, der sollte über beide Alternativen eine ausführliche und ausgewogene Aufklärung erhalten und die Freiheit haben, selbst zu wählen.

Das BARMER-Projekt ist ein Teilstück des Weges auf der Suche noch der optimalen MS-Therapie, aber es ist unvollständig, weil ihm genau das fehlt, was wir brauchen, um uns für die eine oder die andere Alternative zu entscheiden: eine Kontrollgruppe. Wir wissen alle, wie künstlich die Situation in den großen klinischen Studien mit besonders ausgewählten, besonders motivierten und besonders hofierten Patienten ist. Die Schwierigkeit ist: Wie kann ich das Ergebnis, das für einen Durchschnittsmenschen unter idealen Bedingungen gilt, auf den vor mir sitzenden Patienten mit allen seinen Besonderheiten übertragen? Anders gesagt: Die Studienergebnisse, die in einer Treibhausatmosphäre gezüchtet werden, müssen sich in einem zweiten Schritt in der Praxis und im grauen Alltag bewähren. Dazu braucht man verlässliche Daten. In die wissenschaftliche Evaluation müssen also Praxen einbezogen werden, die „wildwüchsige“ MS-Patienten betreuen, bei denen die Mehrzahl also nicht mit Betainterferonen oder Copaxone® behandelt werden. Hier bedarf es keines großen statistischen Aufwands, denn es geht dabei nur um eine einfache Frage: Wie schneiden diese Patienten im Vergleich zu den Teilnehmern bei der integrierten Versorgung nach 2, 5 oder 10 Jahren ab? Das alleinige Kriterium ist der Behinderungsgrad in Bezug auf Alter, Geschlecht, Krankheitsdauer und Verlaufstyp. Denn um den Aufwand an Geld, Selbstquälerei und unangenehmen Nebenwirkungen in der nach den Kriterien der MSTKG behandelten Gruppe zu rechtfertigen, müsste der Unterschied so gravierend sei, dass er auch ohne subtile statistische Techniken ins Auge springen müsste. Ich wette hoch, dass die Patienten, die ein gesundes Misstrauen gegenüber Medikamenten haben und es zunächst einmal mit einer Lebensstiländerung versuchen wollen, der BARMER nicht nur wesentlich billiger kommen, sondern dass sie auch eine bessere Lebensqualität haben und auch hinsichtlich ihrer Behinderung besser abschneiden.

Blickpunkt: Vielleicht nimmt Sie die BARMER ja beim Wort. Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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