Startseite      Impressum

MS-Forum Dr. Weihe

Zurück zur Übersicht | Kontakt

Frage der Woche - Archiv


Warum liegt die Ursache der MS immer noch im Dunkeln?

Erich Segal („Love Story“) beschreibt in einem Roman, wie der Dekan einer medizinischen Fakultät die frischgebackenen Studenten mit einer kurzen, aber eindrucksvollen Ansprache begrüßt. Sie endet mit folgenden Worten:

„Zum Abschluss möchte ich Ihnen ein Geheimnis verraten und dabei betonen, dass es für mich nicht weniger demütigend ist, es zu verraten, als für Sie, es anhören zu müssen.“

Er drehte sich um und schrieb etwas an die Wandtafel: Zwei einfache Ziffern - die Zahl sechsundzwanzig.

Verwundertes Raunen füllte den Saal. Der Dekan wartete, bis es wieder still wurde, atmete tief ein und sah sein Publikum offen an.

„Gentlemen, ich fordere Sie auf, sich folgendes tief ins Gedächtnis zu prägen: Es gibt Tausende von Krankheiten auf dieser Welt, aber welche Ursachen sie haben, das ist nur für sechsundzwanzig von ihnen bekannt. Alles übrige ist - Rätselraten.“

Das war alles. Mit militärischer Haltung und sportlichem Elan verließ er Podium und Saal. Die Zuhörer waren zu verblüfft, um zu applaudieren.“

Es ist tatsächlich immer noch so, dass wir die wenigsten Krankheiten richtig erklären können, weder die Arteriosklerose, das Rheuma und das Asthma, noch die Schüttellähmung, die Alzheimersche Krankheit und den Krebs – nicht einmal den einfachen Kopfschmerz. Wenn die Ursache der MS nach wie vor im Dunkeln liegt, dann hat das nichts damit zu tun, dass zu wenig geforscht wird, wie böse Zungen behaupten. Entweder liegt es daran, dass die Ursache so ungewöhnlich ist, dass noch niemand daran gedacht hat (z.B. ein übersehener Umweltfaktor, ein bisher als harmlos geltendes Bakterium oder ein noch nicht entdecktes Virus), oder daran, dass die MS nicht eine Ursache, sondern ein kompliziertes Netz von Ursachen hat.

Aber was ist eine 'Ursache'? Über diesen Begriff könnte man lange philosophieren. Wenn man jemanden fragt: „Was ist die Ursache des Herzinfarkts?“, dann wird er antworten: „Die Verengung eines Herzkranzgefäßes.“ Fragt man weiter: „Was ist die Ursache der Verengung?“, dann erhält man die Antwort „Die Arteriosklerose“. Insistiert man wie ein Kind, könnte man fragen: „Was ist die Ursache der Arteriosklerose?“ Die ehrliche Antwort hierauf ist: „Wir wissen es nicht.“ Das einzige, was wir sagen können, ist, dass die Arteriosklerose besonders häufig auftritt, wenn die sog. Risikofaktoren Stress, Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Rauchen und Übergewicht vorliegen. Wohlgemerkt sind die Risikofaktoren keine Ursache im strengen Sinn, sondern Bedingungen, die eine statistische Wahrscheinlichkeit erhöhen.

Sie sehen, dass der Ursachenbegriff sich im Nebel verliert, je weiter wir fragen. Dasselbe trifft auch für die MS zu. Auf die Frage: „Was ist die Ursache der MS?“, lautet die Antwort: „Eine chronische Entzündung des ZNS.“ Die nächste Frage ist: „Was ist die Ursache der Entzündung?“ „Eine Autoaggression, also ein irrtümlicher Angriff der weißen Blutkörperchen auf körpereigenes Gewebe.“ Und schon auf die dritte Frage: „Was ist die Ursache der Autoaggression?“, müssen wir mit der Antwort passen.

Auch wenn eine Virusinfektion am Anfang der Entstehung einer MS stehen sollte, muss trotzdem im Laufe des Lebens ein weiterer Faktor wirksam werden, um die Erkrankung auszulösen oder Verschlechterungen zu verursachen. Die Engländer und Amerikaner sprechen von einem trigger, das ist der Abzugshahn eines Gewehrs. Triggerfaktoren könnten sein, dass Lymphozyten unter Medikamenten oder belastenden Lebensumständen aggressiver oder achtloser werden, aber auch, dass das Myelin durch Umweltgifte geschädigt wird oder sich in Stress-Situationen verändert.

In englischen und amerikanischen Lehrbüchern wird hinsichtlich der Krankheitsentstehung der MS zwischen prädisponierenden (vorbereitenden) und präzipitierenden (auslösenden) Faktoren unterschieden.

Prädisponierend können demnach sein:

Zu den präzipitierenden Faktoren gehören:

Bei der MS müssen also mindestens zwei Dinge zusammentreffen: eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung dafür, überhaupt diese Krankheit bekommen zu können, und ein auslösendes Ereignis; deshalb spricht man auch von der „Doppelschlag-Hypothese“.

Die Prädisposition kann leicht- oder hochgradig sein. Prädisposition und auslösende Faktoren stehen in einem umgekehrten Verhältnis: Je geringer die Anlage bzw. je schwächer der Krankheitskeim, desto stärker das auslösende Ereignis, oder anders herum gesagt: Wenn die Anlage sehr ausgeprägt ist, reicht der geringste Anlass, um die Krankheit in Erscheinung treten zu lassen. Insofern gibt der Auslöser Hinweise auf die Aggressivität des Krankheitskeims.

Jede Woche erscheinen mehr als 100 wissenschaftliche Artikel über die MS in Fachzeitschriften. Es gibt wohl keinen Forscher mehr, der die Literatur ganz überschaut. An Hypothesen besteht kein Mangel. Allmählich ist der Faktenberg so groß geworden, dass ernsthaft befürchtet werden muss, man werde die Wahrheit ebenso wenig finden wie eine Nadel im Heuhaufen.

Was wir deshalb brauchen, sind junge MS-Forscher, die sich trauen, vorurteilsfrei mit neuen, ungewöhnlichen Ideen an das Rätsel der MS heranzugehen, die ausscheren und den Trott der normalen Wisenschaft verlassen. Ich kann Behan, Chaudhuri und Roep nur zustimmen: Die MS-Forschung ist in einer Sackgasse gelandet, eine kopernikanische Wende ist dringend erforderlich.

Zurück zur Übersicht | Kontakt