Startseite      Impressum

MS-Forum Dr. Weihe

Zurück zur Übersicht | Kontakt

Frage der Woche - Archiv


Wer war Jaqueline du Pré? (Teil 3)

Versuch einer Deutung

Eine extreme Persönlichkeit, eine extreme Lebensgeschichte, ein extremer Verlauf der Erkrankung. Wie soll dies auf einen Normalsterblichen übertragbar sein?

Wegen des ungewöhnlich schlimmen Krankheitsverlaufes hatte ich anfangs Bedenken, Jacquelines Fall vor MS-Patienten zu besprechen. Als ich jedoch das Manuskript einigen meiner Patienten zu lesen gegeben hatte, war ich überrascht, wie viele sich von diesem Schicksal tief beeindruckt fühlten, und zwar nicht allein deswegen, weil hier eine große Künstlerin tragisch gescheitert war, sondern wegen des Unrechts, mit dem sie sich identifizieren konnten, und das sie selbst am eigenen Leib erlitten hatten: die völlige Verkennung des Müdigkeitssyndroms, die langjährige Fehldiagnose einer hysterischen Neurose, die Unterstellung von Alkoholismus und Wichtigtuerei. Und gerade eben weil wir es hier mit einem Schicksal zu tun haben, das viele Menschen bewegt hat, und durch Biographien und zuletzt durch den Film "Hilary und Jackie" in das Licht der Öffentlichkeit gelangt ist, drängen sich Fragen auf:

War es ein Zufall, dass gerade sie an MS erkrankt ist? Welche Rolle haben das Pfeiffersche Drüsenfieber und die Anstrengungen ihrer Karriere gespielt? Gab es etwas in ihrem Leben oder ihrer Persönlichkeit, das der Erkrankung einen fruchtbaren Boden bereitet hat?

Das Leben eines jeden Menschen hat unendlich viele Facetten und entzieht sich einer eindeutigen InterPrétation wie ein Gedicht. Das Schicksal von Jacqueline du Pré weckt Erinnerungen an das Märchen von Peter Schlehmil, in dem ein in Not geratener Künstler seinen Schatten an den Teufel verkauft. Der rollt ihn ein wie einen Teppich und gibt ihm dafür ein Glückssäckel, das stets mit Dukaten gefüllt ist. Kein schlechtes Geschäft, sollte man denken, für so etwas Überflüssiges wie einen Schatten. Aber die Schattenlosigkeit offenbart sich als schreckliches Unheil, denn sie schließt Schlemihl aus der menschlichen Gesellschaft aus; überall, wo sie bemerkt wird, verfällt er trotz seines ungeheuren Reichtums der Ächtung durch die Mitmenschen, ja, er verliert auf dem Höhepunkt der Erzählung sogar das Mädchen, das er liebt.

Etwas ähnliches passiert im "Doktor Faustus" von Thomas Mann: Adrian Leverkühn erhält vom Teufel die genialische Gabe, Musik zu komponieren, wie sie noch niemand vor ihm geschrieben hat. Der Preis aber ist der völlige Verzicht auf Liebe. Zum Schluss wird er wahnsinnig.

Die Lebenschichte von Jacqueline du Pré aus der Sicht des Filmes "Hilary und Jackie"

Ein kleines Mädchen bewundert die ältere Schwester, die durch ihr Flötenspiel die Menschen bezaubert. Auch die Mutter scheint nur Zeit für das angehende Wunderkind zu haben, und als ihr Bruder Piers geboren wird, fürchtet die kleine Jacqueline, ganz unwichtig zu werden. In ihrer Verzweiflung ist sie bereit, alles dafür herzugeben, um die Liebe ihrer Mutter zu gewinnen. Da hört sie zufällig in einer Kindersendung im Radio ein Cello und weiß sofort: Das ist mein Instrument, das es auch mir erlaubt, die Herzen der Menschen zu erobern.

Schon bald stellt sich heraus, dass ihre Musikalität die ihrer Schwester weit übertrifft. Die Verhältnisse im Elternhaus drehen sich um, die Schwester wird in den Hintergrund gedrängt und sie selbst zum strahlenden Mittelpunkt der Familie. Das ganze dramatische Geschehen findet in einer Atmosphäre heimeliger Gemütlichkeit statt, kein böses Wort, kein Streit, nur manchmal zieht sich die unterlegene Schwester unter einen Küchentisch oder in die Einsamkeit des Kellers zurück, um zu weinen.

Jacquelines Talent ist so außerordentlich, dass ihre Erziehung aus den Fugen gerät. Sie bekommt alles, was sie will, darf die Schule schwänzen und wird von den lästigen Schulaufgaben befreit, wenn sie nur übt, übt, übt. So wird das Cello zu einem Sesam-öffne-dich, einem Zauberschlüssel zur Erfüllung aller ihrer Wünsche, aber sie muss teuer dafür bezahlen. Der Preis ist, dass sie ihm ihre Seele schenkt und ihre Gefühle nur noch im Cellospiel ausdrücken kann.

Sie liebt und fühlt nur wirklich, wenn sie spielt, und neben dieser Liebe hat keine andere Bestand, nicht Liebe zu ihrem Mann, nicht die Liebe zu ihrer Schwester und nicht die Liebe zu ihren Eltern. Aus dem Cello wird ein Dämon, der sie beherrscht, sie bis zum Äußersten fordert und schließlich ruiniert.

Aber wie steht es mit ihrer Schwester? Sie scheitert als Musikerin, hat aber das Glück, einen Mann kennen zu lernen, der sie liebt. Sie heiratet ihn, bekommt drei Kinder, und sie leben zusammen in bescheidenen, aber romantischen Verhältnissen auf dem Land. Jackie wird zur berühmtesten Cellistin der Welt, heiratet in einer Märchenhochzeit Daniel Barenboim, aber sie ist nicht sicher, ob er sie um ihrer selbst willen gern hat, und aus ihren Selbstzweifeln heraus fragt sie ihren Mann: "Würdest du mich auch lieben, wenn ich nicht Cello spielen würde?"

Ihre Ehe wird nicht glücklich. Die Konzerttourneen erschöpfen sie. Schließlich gerät sie in eine tiefe Depression, in der sie sich in die heile Welt der Familie ihrer Schwester flüchtet. Wieder ist diese ihr Vorbild. Wie damals hat sie ihr etwas voraus, um das sie sie beneidet. War es in der Kindheit die Musikalität, ist es jetzt ein Mann, der sie liebt. Sie möchte an dem harmonischen Eheleben teilnehmen oder es zerstören. Und jetzt spitzt sich die Geschichte dramatisch zu, indem sie von ihrer Schwester das größte Opfer fordert: "Ich kann nur gesund werden, wenn du mir das Liebste gibst, das du hast, deinen Mann." Noch einmal bekommt sie, was sie will, aber wie im Märchen wird sie schrecklich gestraft durch eine Krankheit, die ihr alles nimmt.

Ist eine psychologische Deutung einer organischen Krankheit statthaft?

Man kann nun allerdings zu recht einwenden, dass eine solche Interpretation zwar statthaft sei, um ein Märchen, einen Roman oder einen Film zu deuten, aber gänzlich ungeeignet, die Geschichte der Entstehung einer Krankheit zu verstehen.

Was die Deutung aus medizinischer Sicht anbelangt, stehen sich zwei extreme Positionen unversöhnlich gegenüber: Die eine lehnt jeden Zusammenhang einer organischen Erkrankung mit lebensgeschichtlichen Ereignissen ab, die andere, die psychosomatische, glaubt nicht nur, dass jeder seelische Konflikt eine ganz bestimmte körperliche Krankheit zur Folge habe, sondern nimmt darüber hinaus an, dass die Symptome Symbolcharakter besitzen, also etwas auf der körperlichen Ebene ausdrücken, was sich dem Bewusstsein entzieht.

Mit dem Begriff "Psychosomatik" ist so viel Schindluder getrieben worden, dass er auch für mich so widerwärtig war, dass ich ihn über lange Jahre nicht benutzt habe. Da war von unbewusster Bestrafung, von einer Flucht in die Krankheit und der Lösung eines seelischen Konflikts auf körperlicher Ebene die Rede.

Ende der 70er Jahre erschien ein einflussreicher Essay mit dem Titel "Krankheit als Metapher". Er stammte von Susan Sontag, einer amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin, die an Brustkrebs erkrankte und sich auf Anraten ihrer Freunde auch an einen Psychotherapeuten wandte. Was sie dort am meisten erbitterte, war das Gefühl einer Unterstellung, der Unterstellung nämlich, es sei kein Zufall, dass gerade sie zu genau diesem Zeitpunkt von genau dieser Krankheit befallen worden sei. Sie fühlte sich auf einmal nicht nur wegen der düsteren Prognose ihrer Krankheit verzweifelt, sondern zusätzlich schuldig und sie schämte sich, krank zu sein. Sie beschreibt, wie man versucht habe, ihr einzureden, dass Krebs eine Krankheit sei, zu der vor allem seelisch Angeschlagene neigen, nämlich diejenigen, die alles in sich hineinfressen und alles unterdrücken, vor allem Aggressionen und sexuelle Gefühle. All das kam ihr ungerecht und einseitig vor. Sie sehnte sich nach einem Arzt, der ihre Krankheit als eine Krankheit betrachtete, als eine ernste Krankheit zwar, aber als eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne tiefere "Bedeutung".

Ein glänzendes, aber einseitiges Buch. Ich denke, dass Susan Sontag mit ihrer bewegenden Attacke zum Teil Recht hat, und ich kann ihre Ablehnung einer übertriebenen Form der Psychologisierung gut verstehen. Sie meint, dass eine große Neigung bestehe, zufällige Begleitumstände überzuinterpretieren, wenn man die wirklichen Ursachen nicht kenne, wie das z.B. beim Magengeschwür passiert sei. Jahrzehntelang habe man Stress und hinuntergeschluckten Ärger als Ursache angeschuldigt und erst jetzt habe sich herausgestellt, dass es ein Bakterium, der He-liobacter, sei. Und genau so (sagen Hardliner) wird es bei der MS sein: Irgendwann einmal im 2l. Jahrhundert wird man den Erreger entdecken und alles Gerede von Psychosomatik und gesunder Lebensweise wird sich als falsch und unangemessen erweisen.

Ich halte diese Hoffnung für trügerisch. Wenn man mir die Pistole auf die Brust setzen und mich fragen würde, ob ich glaube, dass es einen MS-Erreger gibt, dann würde ich sagen: Ja. Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um ein Virus handelt, und meiner Ansicht nach spricht sogar viel dafür, dass es das Epstein-Barr-Vrus ist. Aber leider bedeutet das nicht viel. Es wäre nämlich denkbar, dass der gesuchte MS-Erreger nur eine notwendige, aber keineswegs entscheidende Voraussetzung dafür ist, ob jemand erkrankt. Vielleicht ist der Erreger der MS an sich völlig harmlos, kommt überall vor und befällt nahezu jeden von uns. Schaden kann er nur dann stiften, wenn mehrere unglückliche Umstände zusammentreffen.

Ein Beispiel ist die Endocarditis lenta, die gefürchtete Entzündung der Herzinnenwand. Der Erreger ist der vergrünende Streptococcus, der bei jedem Menschen ein harmloser Bewohner der Mundhöhle ist. Immer wieder gelangen einige Bakterien ins Blut, werden aber dort sofort vom Immunsystem angegriffen und vernichtet. Nur unter ganz ungünstigen Bedingungen, wenn die Abwehrkräfte daniederliegen, kann es passieren, dass sich ein Bakterium auf einer Herzklappe ansiedelt, sich dort vermehrt und diese zerstört. Zwar ist der Erreger der vergrünende Streptococcus, aber die eigentliche Grund für die Erkrankung ist die Abwehrschwäche.

Auf die MS übertragen heißt das: Natürlich gibt es MS-Fälle, die ohne erkennbare Ursache auftreten, aber sie sind selten. Häufiger sind die als Folge körperlicher Überlastungen, z.B. beruflicher Stress, Kinder, die in kurzen Abständen hintereinander geboren werden, extreme Sonnenexposition im Urlaub, Schwächung nach Grippe oder Operationen. Aber mindestens ebenso häufig ist der Ausbruch der Erkrankung in seelischen Belastungssituationen wie in Ehekrisen, nach Todesfällen und bei erlittenem Unrecht.

Denn gerade chronische Krankheiten sind durch ein labiles Gleichgewicht charakterisiert. Das gilt vor allem für die MS. Immerhin zeigen ja die symptomfreien Intervalle zwischen zwei Schüben, dass ein Stillstand des Krankheitsgeschehens möglich ist. Damit gleicht sie einem Stein am Rande eines Abhangs. Er wird dort friedlich liegen bleiben, wenn nichts Außergewöhnliches passiert, aber es existiert ein gewisses Risiko, dass er durch etwas Unvorhersehbares ins Rollen gerät: einen starken Regenguss, einen schweren Sturm oder den Stiefel eines Wanderers, der ihn in die Tiefe stößt.

Zurück zur Übersicht | Kontakt