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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Gibt es „stumme“ MS-Herde?

Zu diesem Thema hat der 'Blickpunkt' ein Gespräch mit Dr.W.Weihe geführt, das hier im Wortlaut wiedergegeben wird. Der 'Blickpunkt' ist die Zeitschrift der 'Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V.' (MSK).

Man sagt, auf einen MS-Schub kommen fünf oder sogar zehn MS-Herde. Das heißt, die überwiegende Zahl der MS-Herde entsteht „stumm“. Ob es sich hierbei wirklich um harmlose Veränderungen handelt, oder ob sie doch zu schleichenden Ausfällen führen, die zunächst unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben, darüber haben wir das folgende Gespräch mit Herrn Dr. med. Wolfgang Weihe geführt.

Blickpunkt: Was versteht man eigentlich genau genommen unter „stummen" Herden?

Weihe: Das „stumm“ bezieht sich weniger auf die Herde als auf die Hirnregion, in der sie liegen. Ein stummer Herd ist also ein Herd, der in einer „stummen“ Hirnregion liegt.

Blickpunkt: Was ist der Unterschied?

Weihe: Theoretisch könnte der Entzündungsprozess in einem Herd so leichtgradig sein, dass er zu keinen Symptomen führt, obwohl er „redseliges“ Nervengewebe betrifft. In einem anderen Herd kann ein ausgeprägter Zerstörungsprozess unbemerkt bleiben, weil hier nur scheinbar überflüssige Nervenfasern verlaufen.

Blickpunkt: An dieser Stelle sollten wir die Begriffe „stumme“ und „redselige“ Hirnregionen erklären.

Weihe: Historisch gesehen leitet sich diese Unterscheidung von der elektrischen Stimulation der Hirnrinde mit Elektroden ab, aber ich beziehe mich hier nur auf die weiße Hirnsubstanz, weil diese der Hauptort des Geschehens bei der MS ist. Es gibt umschriebene Regionen, in denen wichtige Nervenfaserbündel vom Gehirn zur Muskulatur oder Haut und umgekehrt verlaufen. Sie sind „redselig“, weil sich hier auch geringgradige Schädigungen in Form von Lähmungen oder Gefühlsstörungen bemerkbar machen. Die bekanntesten „redseligen“ Stellen sind das Halsmark, der Sehnerv und die Capsula interna, ein kleiner bumerangförmiger Engpass mitten im Gehirn, in dem die Pyramidenbahn verläuft. 90 oder 95% der weißen Hirnsubstanz sind aber scheinbar stumm, das heißt, man merkt es nicht, wenn sich hier Entzündungsherde ausbilden.

Blickpunkt: Nach dem gesunden Menschenverstand sollte man eigentlich erwarten, dass unser Gehirn das empfindlichste Organ ist, wenn man bedenkt, dass im Gehirn unsere Gefühle und Schmerzen zum Bewusstsein gelangen.

Weihe: Sie haben Recht. Das ist ein höchst erstaunliches Phänomen, das auch schon Aristoteles verwirrt hat. Bei Soldaten, denen im Kampf ein Teil der Schädelkapsel weggerissen wurde, und deren Gehirn bloß liegt, kann man zerquetschte Teile mit einem Messer herausschneiden, ohne dass die Betroffenen Schmerzen verspüren, obwohl sie bei vollem Bewusstsein sind. Daraus schloss der Philosoph messerscharf: Diese graubraune, schleimige und kalte Masse kann nicht der Sitz des Denkens und der Gefühle sein - und verlegte diesen ins Herz bzw. den Bauch.

Blickpunkt: Heißt das, dass das Gehirn über riesige ungenutzte Areale verfügt? Man sagt ja, dass ein Mensch nur mit einem Siebentel seiner Leber auskommen könnte.

Weihe: DerVergleich mit der Leber hinkt, weil die kleinsten Einheiten der Leber unabhängig voneinander arbeiten. Ich bin überzeugt, dass es keinen Kubikmillimeter überflüssigen Hirngewebes gibt. Wir überschätzen die Bedeutung der Hirnrinde. Hier scheint alles Wesentliche, das Analysieren und Speichern von Informationen stattzufinden. Die Glia oder die weiße Hirnsubstanz scheint nicht viel mehr als Stopfmaterial zu sein, um die Hirnrinde aufzuspannen wie ein Kostüm auf einer Kleiderpuppe. Glia heißt ja auch „Kitt“. Durch diese Stütz- und Füllsubstanz ziehen ein paar relativ dünne Nervenfaserbündel, die sich aber in der Masse weitgehend funktionslosen Materials verlieren. Das ist - etwas überspitzt formuliert - die Standardvorstellung unseres Gehirns.

Blickpunkt: Warum halten Sie dieses Modell für falsch?

Weihe: So wichtig wie die Hirnrinde mit ihren Billionen von Nervenzellen sein mag, sie kann ihre Fähigkeiten nur dann entfalten, wenn alle Hirnabschnitte auf die komplizierteste Art miteinander verknüpft sind. Das heißt, auch durch die so genannten „stummen“ Hirnregionen verläuft ein dichtes Netz von Nervenfasern. Man muss sich vorstellen, dass alles, was wir wahrnehmen, in unserem Gehirn zunächst einmal auseinander genommen wird, so wie es ein Uhrmacher mit einer Uhr tut, die er reinigen will. Die Form eines Gesichts wird an einer anderen Stelle analysiert als die Farbe der Lippen, die Stellung der Augen oder die Kontur der Nase; sogar der Gesichtsausdruck hat seinen eigenen Ort im Gehirn. Um nicht ein Tohuwabohu zersplitterter Einzelaspekte, sondern die ganze Person zu sehen, müssen mindestens 30 Hirnregionen zusammenarbeiten, damit alles wieder richtig zusammengesetzt wird. Normalerweise verläuft das alles so schnell und so reibungslos, dass wir gar nicht merken, wie aktiv unser Gehirn ist. Jeder noch so kleine Herd führt zu Störungen in diesem komplizierten Netzwerk, die lange Zeit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben können, aber das Zusammenfügen der einzelnen Puzzleteile erschweren. Damit wird das Denken zu einer harten Arbeit. Es ist so, als wolle man einen Text lesen, in dem überall Buchstaben oder sogar ganze Wörter fehlen.

Blickpunkt: Damit könnten so genannte stumme Herde mitverantwortlich für das Fatignesyndrom sein?

Weihe: Ja. Die abnorme Ermüdbarkeit und viele Symptome, die wir Ärzte als uncharakteristisch bezeichnen, könnten damit zusammenhängen. Die Patienten haben oft große Probleme, ihre Beschwerden zum Ausdruck zu bringen, weil sie so schwer fassbar sind. Sie sagen zum Beispiel: „Ich habe irgendwie in meinem Kopf das Gefühl, da tut sich was, aber es geht nicht weiter. Als ob meine Gedanken stecken bleiben.“ Oder: „Wenn ich Kaffee kochen will, muss ich mir jeden Schritt überlegen, z.B. wo das Wasser reinkommt.“ Oder: „Wenn ein Familienfest ist, stürzt alles auf mich ein. Ich kann mich nicht auf einen Gesprächspartner konzentrieren, weil alle Geräusche wie in einem Wirrwarr miteinander verschmelzen.“

Blickpunkt: Im BLICKPUNKT 1/2004 haben Sie geschrieben, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Dicke des Hirnbalkens und der Hirnleistungsminderung von MS-Erkrankten. Sie haben die Konzentrations- und Gedächtnisstörungen klar vom Fatiguesyndrom getrennt. Aber könnte die mehr oder weniger unbewusste Denkerschwernis mit abnormer Ermüdbarkeit nicht doch eine Vorstufe in diesem Prozess darstellen?

Weihe: Je länger ich mich mit dem Müdigkeitssyndrom beschäftige, desto mehr halte ich es für möglich, dass ein fließender Übergang besteht.

Blickpunkt: Gibt es also „stumme“ MS-Herde?

Weihe: Ich bezweifele das. Die neuen Erkenntnisse in der Hirnforschung scheinen darauf hinzudeuten, dass MS-Herde nicht wirklich stumm sind. Die Versuchung ist groß, „stumme“ und „redselige“ Hirnregionen mit wichtigen und unwichtigen Hirnregionen gleichzusetzen. Es sind aber die Funktionen aller Hirnregionen wichtig. Einige sind verantwortlich für bewusste, andere für unbewusste Prozesse. Es klingt paradox, aber es gibt Ausfälle, die erheblich sein können, obwohl wir sie nur sehr verschwommen wahrnehmen und mit Worten nicht fassen können.

Blickpunkt: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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