Frage der Woche - Archiv
Gibt es eine Heilung bei MS?
Immer wieder fällt der Begriff „Heilung“ im Zusammenhang mit der MS - ein zwielichtiges, halbseidenes Wort. Zunächst einmal denkt man an den Wunderdoktor, der durch Handauflegen heilt, dann an den Blinden, der wieder sehend wird, oder den Lahmen, der wieder laufen kann. Eine sehr viel unspektakulärere Bedeutung hat das Wort, wenn davon gesprochen wird, dass ein Knochenbruch oder eine Wunde heilen. Hier liegt die Betonung nicht auf dem Wunderbaren, sondern auf einem natürlichen Prozess. In diesem Sinne können nicht nur ein Arzt oder ein Gottesmann heilen, sondern auch die Natur, das Klima, die Ruhe, ja, sogar die Zeit heilt alle Wunden. Beide Gebrauchsweisen meinen aber wohl, dass die Heilung vollständig ist, dass etwas wieder so wird, wie es vorher war, und dass die Gefahr ein für alle Mal gebannt ist. Soweit zum alltäglichen Umgang mit diesem Wort.
In Abweichung hiervon sagt man allerdings auch, dass ein Tuberkulosekranker nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt als „geheilt“ entlassen worden ist, obwohl ein Lungenflügel zur Hälfte vernarbt ist, und es durchaus nicht sicher ist, ob die Erkrankung nicht nach vielen Jahren wieder aufflackert. Ähnlich wird das Wort gebraucht, wenn man von einer 5-Jahres-Heilung nach einer Krebsoperation spricht. Auch hier ist meist ein Defekt geblieben, und die Heilung könnte durchaus scheinbar sein. Ich persönlich würde das Wort „Heilung“ im Zusammenhang mit der MS aus zwei Gründen meiden: Erstens verläuft die MS in vielen Fällen so gutartig, dass sie von selbst (also ohne Copaxone® und Betainterferone, aber auch ohne Vitamine, Amalgam-Entfernung oder Schlangengifte) ohne sichtbare Behinderung zum Stillstand kommt; und zweitens gehört es zum natürlichen Verlauf der Erkrankung, auch wenn sie einen aggressiveren Charakter hat, dass sie „ausbrennt“, dass die Schübe also seltener werden und oft auch das Fortschreiten der Behinderung lange vor der Rollstuhlabhängigkeit ein stabiles Plateau erreicht und der Krankheitsprozess zum Stillstand kommt. Heiler (aber auch Schulmediziner sind von diesem Vorwurf nicht ausgenommen) sind oft Scharlatane, die sich die Heilerfolge der Natur auf die eigene Fahne schreiben.
Auch wenn ich weiß und respektiere, dass meine verehrte Freundin Christine Wagener-Thiele eine andere Auffassung vertritt, meine ich, dass dieses Wort, so trostspendend es sein mag, doch so missbraucht worden ist, dass es kaum noch auf anständige Weise benutzt werden kann. Auch scheint es mir davon abzulenken, dass ein Zurückdrängen oder sogar Beherrschen der Krankheit entweder ein aktiver Prozess ist, der viel Selbstdisziplin verlangt, oder eine Gnade, die von uns kaum beeinflussbar ist - auf jeden Fall aber nichts ist, was man durch Medikamente erzwingen oder sich bei einem Wunderheiler kaufen kann.