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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Was ist eine Neurose?

Eine einfache Definition lautet:

Eine Neurose ist eine erworbene seelische Gesundheitsstörung, die auf einem Konflikt beruht, der in der Kindheit verwurzelt ist. Der Konflikt ist immer unbewusst.

Somit hat eine Neurose aus klassischer Sicht drei Merkmale: Sie ist nicht angeboren, sondern im Laufe des Lebens entstanden. Die Ursache ist nicht im „Hier und Jetzt“ zu suchen, sondern liegt weit zurück. Und: Alles, was der Betroffene selbst zur Erklärung beizutragen versucht, lenkt von den wirklichen Ursachen ab. Darum braucht er die Hilfe eines Außenstehenden, der sich im Labyrinth der Psyche auskennt. Das klingt etwas abstrakt. Darum ein Beispiel, das ich dem Buch „Grundformen der Angst“ von Fitz Riemann entnehme. Seitdem es vor 50 Jahren zum ersten Mal erschienen ist, hat es sich im Laufe der Jahrzehnte zum Kultbuch auch für Laien entwickelt, die sich näher mit ihrem Seelenleben befassen wollen.

Eine junge Frau hat in den schwierigen Nachkriegsjahren ein Kind von einem Mann empfangen, der sie kurze Zeit später verlässt. Als das Kind geboren wird, hat sie es einerseits sehr lieb, andererseits wirft sie ihm vor, ihr Leben zerstört zu haben. Erschwerend kommt hinzu, dass es dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich ist. Der Mutter ist ihre innere Abneigung quälend bewusst und sie versucht deshalb, das Kind besonders liebevoll aufzuziehen. Sie ist übervorsichtig: Das Kind darf nicht im Sandkasten spielen, weil es sich im Schmutz anstecken könnte, es muss noch im Frühling eine Pudelmütze tragen, damit es keine Erkältung bekommt, es darf nicht Fahrrad fahren, weil es stürzen und sich verletzen könnte, und der Umgang mit Freunden wird ihm verboten, damit es nicht in schlechte Gesellschaft gerät. Wenn das Kind versucht zu revoltieren, bekommt es entweder Süßigkeiten oder Spielzeug, oder die Mutter legt sich theatralisch auf das Sofa und sagt:„Du hast mich so enttäuscht, ich glaube, ich überlebe das nicht.“

Das Kind kann gar nicht anders, als seine Mutter, die es in einem „goldenen Käfig“ aufzieht, zu hassen, gleichzeitig muss es ihm aber als undankbar und eine schlimme Sünde vorkommen, jemanden abzulehnen, der ihm jeden Wunsch von den Augen abliest. Das ist der innere Konflikt, der diesen Menschen, wenn er älter geworden ist, zerreißen kann. Er kann dazu führen, dass er auf leiseste Vorwürfe seiner Lebenspartnerin bzw. seines Lebenspartners überempfindlich reagiert, oder dass es nach dem Tod der Mutter zu schweren Selbstvorwürfen kommt, sie nicht genug geliebt zu haben, und es jetzt nicht mehr gutmachen zu können. Das Ergebnis ist eine neurotische Depression. Neurosen sind häufig. Darum können sie auch bei der MS vorkommen, ohne dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat. Man kann also Läuse und Flöhe haben. Neurosen haben oft einen ungünstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf: Sie können den Ausbruch der MS bzw. das Auftreten von Schüben fördern, indem man sich z.B. aus neurotischen Gründen überlastet, sich unterdrücken lässt oder sich in verwickelte Liebesabenteuer stürzt; und sie können den Umgang mit der Erkrankung erschweren, indem sie entweder ausgeblendet, instrumentalisiert oder depressiv verarbeitet wird. Aus diesen Gründen kann eine Psychotherapie sinnvoll sein.

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