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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Erstdiagnose Multiple Sklerose – hit early and hard?

Viele MS-Betroffene sind verunsichert, wie sie sich, nachdem die Diagnose gestellt worden ist, behandeln lassen sollen. An einem Beispiel möchte ich zwei Alternativen darstellen.

Die 23jährige Karin M. leidet seit längerem unter Schwindel und Müdigkeit. Vor zwei Wochen hat sie beim Joggen bemerkt, dass sie das linke Bein nachzog. Als es am nächsten Tag taub und schwer wie Blei wurde, suchte sie einen Neurologen auf, der sofort ein Kernspintomogramm des Gehirns veranlasste. Dort fanden sich fünf weiße Flecken am Rand der Hirnkammern. Im Liquor wurden oligoklonale Banden nachgewiesen. Die visuell evozierten Potentiale sind rechtsseitig verlängert, und auf Befragen erinnert sie sich, dass sie vor etwa fünf Jahren eine vorübergehende Sehstörung auf dem rechten Auge hatte.

Der Neurologe nimmt sich Zeit und erklärt ihr, dass an der Diagnose einer MS aus seiner Sicht kein Zweifel bestehe, auch wenn man nach den üblichen Kriterien erst einen zweiten Schub abwarten bzw. in einer Kontrolle des Kernspintomogramms neue Herde nachweisen müsse. Der Verlauf der MS sei unberechenbar und führe in den meisten Fällen nach 5, 10 oder 15 Jahren zu einer schweren Behinderung, darum schlage er ihr vor, jetzt gleich mit einer Behandlung zu beginnen, welche die Krankheitsaktivität bremse. Große Studien hätten gezeigt, dass dadurch die Schubzahl um ein Drittel reduziert werde.

Die junge Frau ist erschreckt, als sie erfährt, dass sie sich das Medikament, das er empfiehlt, dreimal in der Woche selbst unter die Haut spritzen soll, und dass sie unter der Behandlung nicht schwanger werden darf. Sie fragt, ob man nicht erst einmal abwarten könne, vielleicht komme die Krankheit auch ohne Medikamente zum Stillstand. Daraufhin erklärt ihr der Arzt, dass, auch wenn zunächst kein weiterer Schub aufträte, es sich um eine trügerische Ruhe handele, denn unterhalb der Oberfläche würde der Entzündungsprozess unbemerkt weiter schwelen und Nervenfasern zerstören, deren Verlust später nicht mehr zu ersetzen sei. Sie müsse davon ausgehen, die Krankheit verstelle sich und gebe sich harmloser, als sie wirklich sei. Darum müsse man sie früh und konsequent bekämpfen. Als er merkt, dass sie weiter unschlüssig ist, gibt er ihr die Adresse einer anderen Neurologin, die er sehr schätze, damit sie sich dort eine zweite Meinung einholen kann.

Wenige Tage später sitzt sie dieser gegenüber. Sie teilt die Ansicht ihres Kollegen, dass an der Diagnose einer MS keine Maus einen Faden abbeißen könne, wie sie sich ausdrückt, ist aber, was die sofortige Einleitung einer Therapie anbelangt, zurückhaltender eingestellt. Sie sieht sich die Kernspinbilder genau an und sagt, es handele sich um alte Herde, die weitgehend ausgeheilt seien. Aggressivere Herde, die auch als „schwarze Löcher“ bezeichnet würden, seien nicht nachweisbar. Wenn man zusätzlich bedenke, dass die Krankheit mindestens schon fünf Jahre bestehe und nicht mehr als fünf Herde produziert habe, also nicht mehr als einen Herd pro Jahr, dann könne man mit guten Gründen von einer niedrigen Krankheitsaktivität ausgehen. Außerdem besage eine gute, wenn auch nicht immer zutreffende Regel, die MS-Aktivität lasse im Laufe der Jahre nach.

Frau M. will wissen, was das für sie bedeutet. Die Ärztin sagt, die Wirksamkeit der Medikamente, z.B. der Betainterferone, sei umstritten. Bisher gäbe es keine verlässlichen Hinweise darauf, dass sie den Langzeitverlauf günstig beeinflussten, man könne das nur daraus schließen, dass sie die Bildung neuer Herde unterdrückten. Weniger neue Herde gleich weniger Behinderung im weiteren Verlauf, so hoffe man. Wenn diese Überlegung stimme, würde man eine frühzeitige Behandlung vor allem dann empfehlen, wenn zu erwarten wäre, dass die Krankheit sehr aktiv ist, dass also z.B. fünf oder zehn Herde pro Jahr neu hinzuträten. Diese Situation liege in ihrem Fall aber nicht vor. Allerdings wisse man nicht genau, wie die Situation im Rückenmark sei. Aufgrund der Symptomatik sei sie überzeugt, dass ein frischer Herd im Rückenmark vorliegen müsse, der für die Gefühlsstörung und Schwäche im linken Bein verantwortlich sei.

„Sollte man dann nicht eine zusätzliche Untersuchung des Rückenmarks veranlassen?“, fragt Frau M. „Das kann man machen“, sagt die Neurologin, „aber es bringt uns nicht viel weiter. Ich bin ziemlich sicher, dass dort ein frischer Herd ist, ob ich ihn nun auf dem Kernspinbild sehe oder nicht, darum beeinflusst der Befund meine Entscheidung nicht wesentlich, ob ich Ihnen zu einer Therapie raten soll oder nicht.“ Sie überlegt. Schließlich sagt sie: „Vielleicht erzählen Sie mir einmal, was in den letzten Wochen alles so los war. Gab es irgendetwas, dass sie aus dem Gleichgewicht gebracht oder ihre Widerstandskraft geschwächt hat?“ Daraufhin bricht die junge Frau in Tränen aus. Sie habe vor drei Monaten herausbekommen, dass sie ihr Freund mit ihrer besten Freundin betrogen habe. Außerdem habe sie große Probleme an ihrer Arbeitsstelle, komme mit ihrem Vorgesetzten nicht aus, müsse ständig Überstunden machen. Aber jetzt sei ihrem Versetzungsgesuch stattgegeben worden, so dass sie ab nächsten Monat den Arbeitsplatz bekomme, den sie sich seit langem gewünscht habe.

„Theoretisch“, sagt die Neurologin nachdenklich, „müssen Sie sich drei Jahre lang behandeln lassen, um eventuell einen neuen Herd zu verhindern. Das scheint mir bei den doch nicht unerheblichen Nebenwirkungen, die sich auch auf ihre Leistungsfähigkeit am neuen Arbeitsplatz auswirken werden, unverhältnismäßig zu sein. Ganz abgesehen davon, dass sie durch die Spritzerei kein normales Leben mehr führen können und ständig daran erinnert werden, krank zu sein. Aus meiner Sicht spricht viel dafür, dass Ihre beruflichen Probleme zusammen mit der enttäuschten Liebesbeziehung dazu beigetragen haben, dass sich Ihre MS jetzt so deutlich gemeldet hat. In Ihrem Fall sehe ich keine Gefahr im Verzug, und ich denke, wir sollten erst einmal abwarten, wie sich Ihre Krankheit weiterentwickelt.“

Frau M. ist hin- und hergerissen. Beide Ärzte haben sich viel Zeit genommen und sie einfühlsam aufgeklärt. Aber ihre Empfehlungen sind widersprüchlich. Was soll sie tun? Geht sie wirklich ein hohes Risiko ein, wenn sie noch ein paar Monate - und wenn alles ruhig bleibt, auch ein paar Jahre - abwartet? Und wie steht es mit den Langzeitrisiken einer solchen Behandlung? Darüber hat ihr niemand etwas sagen können.

Sie ist sich im Klaren darüber, dass sie in diesem Fall die Entscheidung allein treffen muss, denn sie hat nicht den Eindruck, dass der eine Arzt weniger vernünftig und belesen ist als der andere. Im Grunde genommen hofft sie auch, dass sich die neue berufliche Situation positiv auf ihre Krankheit auswirken wird. Außerdem hat sie einen alten Schulfreund wiedergetroffen, und er hat sie am Samstagabend zum Essen beim Griechen eingeladen.

Ich weiß nicht, wie sie sich entschieden hat. Überspitzt gesagt, gibt es zwei Positionen unter MS-Betroffenen. Die einen setzen auf Medikamente. Sie wissen, dass es zur Zeit kein Heilmittel für die MS gibt, aber sie sind überzeugt, dass dies in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Bis dahin möchten sie alles darauf setzen, was das Fortschreiten ihrer Krankheit bremsen und unter Kontrolle bringen kann. Sie wünschen sich einen Arzt, der nichts unversucht lässt und stolz darauf ist, jedes neue Medikament als erster bei ihnen auszuprobieren. Sie lassen sich bei jedem Schub mit Cortisoninfusionen behandeln, spritzen sich Betainterferone oder Copaxone, und nehmen dazu täglich eine Tablette Simvastatin ein.

Die anderen betrachten den Fortschritt mit Skepsis, argwöhnen, er schaue größer aus, als er in Wirklichkeit sei, und misstrauen den Ergebnissen der Medikamentenstudien. Sie verspüren eine Abneigung, ihr Immunsystem mit Medikamenten zu schwächen und vertrauen eher auf die inneren Heilkräfte. Sie setzen auf eine gesunde Ernährung, nehmen evtl. zusätzlich Vitamin E und Vitamin C ein, behandeln ihre Schübe mit Ruhe oder mit Enzymen – und trachten danach, ihr Leben neu zu gestalten.

Sie bekämpfen ihre Krankheit nicht, sondern versuchen, sie besser zu verstehen. Sie achten darauf, ob Ihre Schübe nach einem Umzug, in einer beruflichen Überlastungssituation oder in einer Beziehungskrise auftreten, und nach und nach bekommen sie heraus, dass ihre MS nach einem bestimmten Muster reagiert. Die Krankheit wird Ihnen vertraut, und Sie können mit ihr besser umgehen, wie man mit einem Menschen besser umgehen kann, den man lange kennt. Das gibt ihnen eine gewisse Macht über die MS, auch wenn sie sicher nicht jeden Schub verhindern können.

Beide unterscheiden sich nicht durch Bildung und Intelligenz, sie unterscheiden sich durch ihre Lebensphilosophie. Die einen halten die Natur für ein blindes, feindliches Element, das korrigiert, eventuell sogar bekämpft werden muss, die anderen glauben an die Weisheit der Natur, meinen, dass unser Gehirn den Belastungen der modernen Lebensweise nicht gewachsen ist und sehen eine Chance darin, durch eine Rückkehr zu einer gesunden Lebensweise dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken.

Es gibt Hoffnung für junge Menschen, bei denen gerade erst die Diagnose einer MS gestellt worden ist – viel Hoffnung und berechtigte Hoffnung. Sie liegt aber nicht im Reich der Medikamente, sondern in dem Reich, über das Sie allein die Herrschaft haben, Ihrer Art zu leben und Ihrer Bereitschaft, Ihr Schicksal mitzubestimmen. Jeder Patient ist schlecht beraten, wenn er einseitig auf Medikamente setzt und dabei eine gesunde Ernährung und eine Harmonisierung der Lebensweise vernachlässigt. Während Letzteres für die Arteriosklerose und den Herzinfarkt allgemein anerkannt ist, besteht für die MS noch ein erheblicher Nachholbedarf, der zum Teil auf ungenügende Aufklärung, zum Teil aber auch auf Bequemlichkeit zurückzuführen ist.

Glauben Sie denen nicht, die sagen, eine gesunde Lebensweise sei eine bessere Art des Nichtstuns, und sie würden damit nur wertvolle Zeit verschwenden. Nichtstun ist eben nicht gleich nichts tun. Denn die Ruhe, die sich ein MS-Patient im Schub gönnt, ist ja genau das, was dem entgegenwirkt, das ihn krank gemacht hat.

Wohlgemerkt, ich meine nicht, dass man damit jede Art von MS in den Griff bekommen kann, und dass man jede Art von Stress meiden sollte. Keine Frage, es gibt den guten Stress, die schwere, aber anregende Herausforderung, das schöne Gefühl, abends todmüde mit der Überzeugung ins Bett zu fallen, etwas Gutes und Wichtiges geleistet zu haben - dieser Stress macht sicher nicht krank, im Gegenteil, er erhält uns frisch und jung. Der schlechte Stress ist das graue Einerlei des Alltages, die Mühle, in dem man als Zahnrad funktioniert, die täglichen Schikanen, die man zähneknirschend ertragen muss, das Gefühl der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit.

In diesem Zusammenhang ist häufig der Vorwurf zu hören, in Wahrheit gehe es gar nicht um eine gesunde Lebensweise, sondern darum, MS-Betroffenen wirksame Medikamente vorzuenthalten, weil sie zu teuer seien. Im Grunde genommen handele es sich um eine unterlassene Hilfeleistung. Ich habe eine andere Vermutung: Die Industrie hat sich gegen ihren mächtigsten Konkurrenten verbündet: die Heilkraft der Natur. Es wird behauptet, es sei eine ungeheuerliche ideologische Verblendung, mit der Natur blühende Wiesen, Bauern auf dem Felde und den Geruch wilder Kräuter zu verbinden und diese den Reagenzgläsern, Fabrikschloten und Abwässern der Chemie gegenüberzustellen. In unfairer Weise werde eine Verbindung geknüpft zwischen der Zerstörung der Umwelt und dem Einsatz von Chemie gegen Krankheiten. Die Natur sei nur in Rousseauschen Phantasien „gut“, ihr anderes Gesicht seien aber Seuchen, Sturmfluten, Vulkanausbrüche und Erdbeben. Die Natur wird dämonisiert, und die Krankheit wird als ein wildes, haariges Monster dargestellt, um ein Geschäft mit der Angst zu machen.

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