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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Cortison – aus ganz persönlicher Sicht

Was ein Arzt von einem Medikament hält, hängt weniger davon ab, was er über dessen Chemie und Wirkungsmechanismus weiß, sondern beruht im wesentlichen darauf, welche Erfahrungen er damit gemacht hat. Ich bin oft gefragt worden, warum ich Cortison so zurückhaltend gegenüber eingestellt bin. Ich habe schon mehrfach dargelegt, was aus wissenschaftlicher Perspektive gegen eine Cortisonbehandlung spricht. Aber natürlich habe ich auch ganz persönlich eine ganze Menge mit Cortison erlebt, was meine Einstellung grundlegend beeinflusst hat.

Meine erste praktische Begegnung mit Cortison hatte ich während meiner Medizinalassistentenzeit. Der Medizinalassistent war früher das, was heute der AiP, der Arzt im Praktikum ist. Unter den ersten Patienten, die man mir zugeteilt hatte, war eine 72jährige Dame, eine richtige Dame, die mit makelloser Frisur und Spitzennachthemd in ihrem Bett lag, neben sich auf dem Nachttisch eine Flasche Kölnisch Wasser. Sie litt unter starken Schmerzen, die alle Muskeln und die großen Gelenke betrafen. Ihre Blutsenkungsgeschwindigkeit war mit 100 in der ersten Stunde maximal erhöht, was, wie Sie bereits wissen, ein sicherer Hinweis darauf ist, dass im Körper ein heftiger Entzündungsprozess abläuft. Aber alle übrigen Blutwerte waren normal, und auch die Röntgenuntersuchung der Gelenke ergab keinen pathologischen Befund. Wir fühlten uns alle hilflos und auch mein sonst sehr erfahrene Oberarzt hatte keine zündende Idee. Das weckte meinen Ehrgeiz. Ich wälzte die Lehrbücher und fand schließlich das Krankheitsbild, das genau zu dem meiner Patientin passte: Es hieß Polymyalgia rheumatica. Das Mittel der Wahl war Cortison. Und tatsächlich, gleich nachdem die Patientin die erste Infusion mit Cortison bekommen hatte, bildeten sich die Schmerzen innerhalb von einer Stunde vollständig zurück. Das war ein großer Triumph für mich als junger Arzt, und der Chefarzt würdigte meine diagnostische Glanzleistung sogar in der Ärztekonferenz. Kurze Zeit später konnten wir die ältere Dame in gutem Zustand und schmerzfrei entlassen. Aber schon am Tag darauf rief mich ihr Hausarzt wütend an. Wir hätten seine Patientin zwei Wochen lang behandelt, sie mit einer Unmenge Blutentnahmen gequält worden und wir hätten uns auch nicht gescheut, sie knapp ein Dutzend Mal zu röntgen. Und was sei dabei herausgekommen? Eine aufgeblasene Diagnose. die ja im Klartext nichts anderes bedeute, als "rheumatische Schmerzen vieler Muskeln". Ein Berg habe gekreißt, und ein Mäuschen sei geboren worden, sagte er mit vernichtender Ironie. Und nicht zuletzt sei es ein Verbrechen, einem Menschen über 70 mit Cortison zu behandeln. Er habe das Medikament sofort wieder abgesetzt. Bevor ich antworten konnte, hatte er den Hörer aufgeknallt. Ich war gekränkt. Eine Woche später wurde Frau T. wieder eingeliefert. Dieses Mal hatte sie heftigste Kopfschmerzen und zwar ausschließlich in der linken Kopfhälfte. Das bestätigte meine Diagnose einer Polymyalgia rheumatica, denn sie ist nicht, wie der Hausarzt unterstellt hatte, ein aufschneiderisches lateinisches Wortungetüm, sondern diese Erkrankung geht, wenn sie nicht mit Cortison behandelt wird, als Folgekrankheit in die Arteriitis temporalis HORTON über, die mit stärksten Halbseitenkopfschmerzen beginnt und innerhalb von kurzer Zeit zur Erblindung führt. Wir behandelten also erneut mit Cortisoninfusionen. Die Kopfschmerzen verschwanden sofort wie zuvor die Muskelschmerzen, aber am nächsten Morgen wurde die Patientin von der Nachtschwester tot im Bett aufgefunden. Die Obduktion ergab eine Lungenembolie. Meine erste Erfahrung mit Cortison wurde also durch beides geprägt: die beeindruckende Wirkung und die tödliche Nebenwirkung.

Wenige Monate später betreute ich einen Alkoholiker mit einer fortgeschrittenen Leberzirrhose. Sein Bauch war von einem riesigen Aszites (Wassersucht) aufgetrieben, und seine Haut und die Bindehäute seiner Augen waren gelb wie eine Zitrone. Es war uns allen klar, er hatte nicht mehr lange zu leben. Drei Tage vor seinem 50. Geburtstag ordnete der Oberarzt Cortisoninfusionen an. Es war wie ein Wunder. Der Ikterus (Gelbsucht) bildete sich rasch zurück, so dass er bei der kleinen Geburtstagsfeier mit seiner Frau und seinen Kindern eine fast normale Gesichtsfarbe hatte. Wenige Tage später starb er an einer Blutung der Speiseröhre, die eine Folge der Lebererkrankung und nicht der Cortisonbehandlung war. Ich hatte zum ersten Mal den "Weißmacher-Effekt" von Cortison kennengelernt: Cortison kann vorübergehend einen schweren Ikterus zum Verschwinden bringen und damit eine Besserung vortäuschen. Einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat es nicht.

Aber es gibt auch Positives über Cortison zu sagen. Im Laufe meines Lebens bin ich zu vielen Asthma-Anfällen gerufen worden. Wenn sie heftig sind, stellen sie einen dramatischen, lebensbedrohlichen Zustand dar. Wenn die üblichen Asthmamittel versagen und der Patient oder die Patientin zu ersticken droht, wirkt eine Cortisonspritze lebensrettend. Dasselbe gilt bei Schwellungen der Schleimhaut des Kehlkopfes, wenn jemand zum Beispiel eine Biene oder Wespe verschluckt hat. Kein Arzt würde je bestreiten, dass Cortison in diesen Fällen unverzichtbar ist. Aber es gehört auch zu den täglichen Erfahrungen des Arztes, dass Asthma-Kranke von Cortison abhängig werden und es täglich einnehmen. Die Asthmabeschwerden werden dadurch zwar gelindert, aber der Preis ist hoch. Am gefürchtetsten ist die cortisonbedingte Knochenentkalkung (Osteoporose), die unter einer Langzeitbehandlung unvermeidlich auftritt. Die Knochen werden brüchig wie Glas und brechen spontan, manchmal allein schon unter dem Körpergewicht, und die Betroffenen leiden unter stärksten Schmerzen, die selbst durch Morphium nicht gelindert werden können. Zu den Patienten, die gefährdet sind, zu viel Cortison einzunehmen, gehören natürlich auch die mit dem "echten" Rheuma, also der chronischen Polyarthritis, eine sehr schmerzhafte Entzündung, die vor allem die kleinen Gelenke an der Hand und den Füßen befällt. Auch hier wirkt Cortison ausgezeichnet, aber es ist als ob man den Beelzebub mit dem Teufel austreibt: Die später auftretenden Beschwerden durch die Knochenentkalkung können die rheumatischen Schmerzen bei weitem übertreffen.

Schließlich möchte ich noch auf die Cortisonbehandlung des Hirntumors eingehen. Bösartige Hirntumoren sind ein besonders trauriges Kapitel in der Neurologie. Es ist bisher niemals gelungen, einen bösartigen Hirntumor so vollständig zu operieren, dass er nicht wieder gewachsen ist. Auch der Tumor wird von unserem Immunsystem als Fremdkörper empfunden, und es kommt um ihn herum zu einer Gewebsschwellung wie beim Hirninfarkt bzw. MS-Herd. Dadurch erscheint der Tumor oft doppelt so groß, als er in Wirklichkeit ist. Auch hier wirkt Cortison scheinbar Wunder. Innerhalb von wenigen Tagen kommt es zu einer beeindruckenden Besserung des Zustandes des Patienten, weil der Hirndruck nachlässt. Auch hier hält das Wunder nur für kurze Zeit an, denn das Tumorwachstum wird durch Cortison nicht gehemmt. Vielleicht lässt sich der Tod durch die Cortisonbehandlung um einige Wochen verschieben, aber es ist immer nur eine Verlängerung des Sterbens, und manchmal ist es schrecklich anzusehen, wenn das Gesicht des Todgeweihten durch Cortison anschwillt und durch Akne entstellt wird.

Ich nehme an, dass das, was ich hier über Cortison berichtet habe, im Großen und Ganzen den Erfahrungen entspricht, die jeder Arzt mit diesem Medikament gemacht hat. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass ich Cortison keineswegs verteufele, dass aber zu bedenken ist, dass es eine Besserung oder Heilung oft vortäuscht und ein gefährliches Mittel in der Hand des Arztes ist, das ganz wenigen Notfallsituationen vorbehalten werden sollte.

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