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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Ist die MS eine Zivilisationskrankheit (Teil 1)?

Es gibt einen Erklärungsversuch für die MS, der eine ebenso große Popularität genießt wie die Suche nach dem MS-Erreger. Ich bin sicher, Sie kennen die folgende Geschichte:

Ein kleines Mädchen lebt in der herrlichen Schweizer Bergwelt bei seinem Großvater, der ein herzensguter, aber etwas eigenbrödlerischer Mensch ist. Unter dem Druck der Verwandten und Dorfbewohner muss er schließlich einwilligen, das Kind in die Großstadt, nach Frankfurt am Main zu schicken. Dort wird es die Gesellschafterin einer reichen kranken Kaufmannstochter, die wegen einer Lähmung im Rollstuhl sitzt. Diese freut sich natürlich über die stets lustige neue Freundin. Entsetzt ist dagegen Fräulein Rottenmaier, die gestrenge Erzieherin: Das Naturkind kann nicht lesen und schreiben, hat keine Umgangsformen, spricht in einer unverständlichen Mundart und schleppt herrenlose Kätzchen an. Aber Heidi, so heißt unsere kleine Heldin natürlich, verträgt das Großstadtleben nicht. Sie wird krank, magert ab und ängstigt schließlich die Familie durch nächtliches Schlafwandeln. Der Doktor, ein Freund des Hauses, weiß Rat für beide Mädchen: Sie sollen den Sommer in den Schweizer Bergen verbringen, die er zum Heilmittel gegen Blässe, Kraftlosigkeit und Heimweh zugleich erklärt.

Der Arzt soll mit seiner „naturheilkundlichen“ Behandlungsmethode doppelt Recht behalten. Denn Heidi gesundet innerhalb kürzester Zeit inmitten der Berge und in der Nähe des geliebten Großvaters. Spektakulär ist allerdings, was kurz darauf mit Klara geschieht. Auch sie blüht in der Bergwelt sichtlich auf und genießt dabei besonders die Ausflüge mit Heidi, die sie im Rollstuhl in der Umgebung der Hütte des Großvaters herumfährt. Eines Tages helfen Heidi und ihr Freund, der Geißenpeter, der Kranken aus ihrem Gefährt und stützen sie mit vereinten Kräften, um ihr abseits des Weges eine besonders prächtige Bergwiese zu zeigen. Und das Unfassbare geschieht: Die Gelähmte lernt laufen.

Die Geschichte spielt am Anfang des 20. Jahrhunderts. Worunter Klara gelitten hat, weiß ich nicht. Eine MS ist unwahrscheinlich, da sie schon als Kind betroffen war. Trotzdem, Geschichten wie diese verstärken den uns allen innewohnenden Verdacht, gerade viele der chronischen Krankheiten, die uns belästigen, könnten etwas mit dem Qualm aus den Schornsteinen der Fabriken, den Abwässern von Chemiefabriken, Insektenvertilgungsmitteln, Konservierungsstoffen in unserer Nahrung oder dem Amalgam in unseren Zähnen zu tun haben. Und ist die MS nicht eine Krankheit, die zum ersten Mal im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgetreten ist, zu derselben Zeit also, als die industrielle Revolution das Leben in Europa zu verändern begann?

Dass es Gehirnkrankheiten durch chronische Vergiftungen gibt, ist unbestritten. Sicher erinnern sich einige von Ihnen (um eine zweite Kindergeschichte zu erwähnen) an den verrückten Hutmacher in „Alice im Wunderland“, der jeden Tag Geburtstag feiert? Die lustige Geschichte hat einen ernsten Hintergrund. Im 19. Jahrhundert verwendeten die Hutmacher zur Herstellung von Biberfellmützen eine Substanz, die Quecksilber enthielt. Durch den hohen Dampfdruck dieser Verbindung atmeten sie erhebliche Mengen ein, was zur Quecksilbervergiftung führte mit den Hauptmerkmalen Vergesslichkeit, abnorme Ermüdbarkeit und Persönlichkeitsveränderungen.

Nun spielt das Quecksilber aber auch in unserer Zeit noch eine große Rolle. Schätzungsweise 5.000 t Quecksilber gelangen pro Jahr in die Ozeane, wo es von Meerespflanzen aufgenommen wird. Die Meerespflanzen werden von Fischen gefressen, in denen sich das Quecksilber dann anreichert. In Japan erlitten 1953 bis 1960 über hundert Fischer so erhebliche Quecksilbervergiftungen, dass 43 starben. Grund waren Fabrikabwässer, die in eine Bucht geleitet wurden, aus denen eine nahegelegene Ortschaft ihren Thunfisch bezog. Dieser enthielt das Tausendfache der Quecksilberkonzentration, die im Meerwasser anzutreffen ist.

Aber hat man jemals wirklich zeigen können, dass eine Vergiftung konkret zu einer MS führen kann? Eine der wenigen Indizien für eine toxische Genese der Erkrankung war eine Häufung von MS-Fällen in einer Fabrik von Rochester (NY), in der mit Zink gearbeitet wird. Unter den 5039 Mitarbeitern fand man 11 gesicherte MS-Fälle. Das liegt weit über der Erkrankungsrate, die in den Regionen mit der höchsten MS-Häufigkeit gefunden wird. Häufungen dieser Art, sogenannte „cluster“, können uns sicher bei der Suche nach der Ursache der MS helfen und sind in jedem Fall ernst zu nehmen, allerdings sind Häufungen gerade auch für Zufallsereignisse typisch. Ärzte wissen das vom Notdienst: Entweder es kommt kein Notfall oder es kommen fünf gleichzeitig.

Auch gibt es tatsächlich chemische Stoffe, die isoliert das Myelin schädigen: Hexachlorophen zum Beispiel. Es wurde in Krankenhäusern vor allem zur Desinfektion bei Kindern benutzt. Auch Seifen und deodorierende Sprays enthielten die Substanz. Sie dringt durch die Haut ins Blut, gelangt von dort ins Hirngewebe und kann sich im Myelin anreichern. Die Myelinhüllen schwellen an und zersetzen sich. Seitdem diese Vergiftungen bekannt sind, ist Hexachlorophen aus dem Verkehr gezogen worden.

Weiterhin erwähnenswert ist ein rätselhaftes Krankheitsbild, das in den 60er Jahren auftrat und wie die MS mit einer Sehnervenentzündung und aufsteigenden Lähmungen einherging. In Japan wurden wenigstens 1000 Todesfälle gezählt und 30.000 Fälle von Erblindung und Lähmung der unteren Extremitäten. Erst später wurde es mit der Einnahme von Oxychinolin-Präparaten in Zusammenhang gebracht. Oxychinolin (Mexaform®) war ein Mittel gegen „Sommerdurchfall“, eine harmlose Darmstörung, die viele Reisende in tropischen Ländern befällt und ohne Behandlung zwei Tage dauert.

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