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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Neuzulassung von Tysabri® - eine schwierige Nutzen-Risikoabwägung

Zu diesem Thema hat der 'Blickpunkt' ein Gespräch mit Dr.W.Weihe geführt, das hier im Wortlaut wiedergegeben wird. Der 'Blickpunkt' ist die Zeitschrift der 'Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V.' (MSK).

Im März 2005 machten Berichte von drei Patienten Schlagzeilen, die unter einer Therapie mit Tysabri® (Wirkstoff: Natalizumab) an der seltenen progressiven multifokalen Leukoencephalopathie (PML) erkrankt waren. Daraufhin wurde das Medikament, das zur Zeit zu den größten Hoffnungsträgern für MS-Kranke zählt, von den Herstellern Biogen Idee und Elan Corporation in den USA freiwillig vom Markt genommen. Nach einer umfangreichen RE-Analyse aller verfügbaren Daten von mehr als 3000 mit Tysabri® behandelten Patienten hat die zuständige europäische Behörde CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) die Substanz zur Zulassung empfohlen, und zwar

Zusätzlich gilt: Niemand, der Tysabri® erhält, darf zusätzlich mit Betainterferonen oder anderen Immunmodulatoren bzw. -suppressiva behandelt werden.

Am 29.06.06 gaben die Unternehmen Biogen Idee und Elan Corporation die Zustimmung der für Neuzulassungen zuständigen Behörde EMEA (European Medicines Agency) bekannt. Viele MS-Patienten knüpfen hohe Erwartungen an das Präparat, aber wie hoch ist das Risiko schwerwiegender Komplikationen? Zu dieser Frage führte der BLICKPUNKT das folgende Interview mit Herrn Dr. med. Wolfgang Weihe.

Blickpunkt: Wie wir bereits wiederholt berichtet haben, stellt Tysabri® aus mehreren Gründen für MS-Betroffene eine große Hoffnung dar: Die Wirksamkeit wird als doppelt so hoch wie die der Betainterferone veranschlagt, dazu kommen die mit einer Infusion pro Monat im Vergleich zu den Betainterferonen relativ angenehme Anwendungsform und die gute Verträglichkeit. Als die Zulassung in den USA bereits erfolgt war und in Deutschland kurz vor der Tür stand, kam es sozusagen aus heiterem Himmel zu den schweren Komplikationen. Für viele MS-Patienten war das ein schwerer Schlag. Könnten Sie für unsere Leser noch einmal kurz zusammenfassen, um was für eine Krankheit es sich bei der progressiven multifokalen Leukoen-zephopathie (PML) handelt?

W.W.: Die PML ist eine meist tödlich verlaufende Hirnkrankheit. Ihr liegen zum Teil herdförmige, zum Teil flächenhafte Entmarkungen des Gehirns und des Rückenmarks zugrunde, die sich stürmisch entwickeln und gewisse Ähnlichkeiten mit der akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) aufweisen, aber wie diese nichts mit der MS zu tun haben. Zu den Symptomen gehören eine rasch fortschreitende Demenz, mannigfache Herdsymptome und Para- und Tetraparesen. Die Erkrankung endet meist bereits nach wenigen Monaten im Koma. Im Gegensatz zur MS finden sich keine Entzündungszeichen im Liquor. Der Erreger ist das JC-Virus.

Blickpunkt: Leitet sich der Name von der mit dem Rinderwahnsinn verwandten Jakob-Creutzfeldt-Krankheit ab?

W.W.: Nein. Viele denken das, aber das JC-Virus wurde nach den Initialen des ersten Patienten benannt, bei dem es 1972 nachgewiesen werden konnte. Es gehört zur Gruppe der eigentlich völlig harmlosen Polyoma-Viren, von denen etwa 80% der Normalbevölkerung befallen sind, ohne dass es jemals zu Krankheitszeichen kommt. Nur bei einer ausgeprägten Immunschwäche, zum Beispiel bei AIDS oder unter einer immunsuppressiven Behandlung nach Organtransplantation kann es reaktiviert werden und eine PML verursachen.

Blickpunkt: Wie schaffen es die JC-Viren, ins Gehirn einzudringen?

W.W.: Vieles spricht dafür, dass sie über Leukozyten ins ZNS gelangen und hier vor allem die Oligodendrozyten befallen, in denen sie zunächst einmal in einen Dornröschenschlaf fallen.

Blickpunkt: Es handelt sich also um eine Zeitbombe, die aber unter normalen Bedingungen nicht gezündet werden kann?

W.W.: Das ist richtig. Unser Immunsystem scheint selbst bei schweren Erkrankungen, die das Immunsystem belasten bzw. ablenken, wie z.B. beim Krebs, immer noch stark genug zu sein, um mit diesem Erreger fertig zu werden.

Blickpunkt: Auch Tysabri® allein reicht anscheinend nicht aus, um zu einer unkontrollierten Vermehrung des Virus zu führen.

W.W.: Tatsächlich ist es unter Tysabri® allein bisher zu keiner PML-Erkrankung gekommen. In zwei Fällen war zusätzlich Avonex® gespritzt worden, und der dritte Fall, hierbei handelte es sich übrigens um einen Morbus Crohn-Patienten, hatte zusätzlich ein Immunsuppressivum erhalten.

Blickpunkt: Wenn auch ein Patient mit einer chronischen Darmerkrankung unter Tysabri® mit einer PML erkrankte, dann ist wohl nicht davon auszugehen, dass die MS die Empfindlichkeit, eine PML zu erleiden, zusätzlich erhöht.

W.W.: Nein. Zunächst war es jedoch naheliegend anzunehmen, das Risiko wäre für MS-Betroffene wegen der „Vorschädigung" des Gehirns erhöht.

Blickpunkt: Stimmt es, dass einer der beiden unter der Diagnose MS behandelten und an PML erkrankten Patienten gar keine MS hatte?

W.W.: Ja, das ist der Fall der Anita Louise Smith, der einiges Aufsehen erregt hat. Dabei handelt es sich um eine 42jährige Frau aus Colorado, die seit einem Jahr mit Avonex® behandelt worden war. Nachdem sie an der PML verstorben war, fand sich bei der Autopsie kein Hinweis auf eine MS. Im Nachhinein deutet alles darauf hin, dass sie unter einer komplizierten Migräne litt. Der Fall zeigt zweierlei: Erstens, dass der Versuch, eine MS möglichst frühzeitig zu diagnostizieren, die Gefahr von Fehldiagnosen erhöht, und zweitens, dass es für Ärzte, die für jeden Patienten, den sie für eine Studie gewinnen, Geld bekommen, eine Versuchung darstellt, auch einmal Fünfe gerade zu sein lassen.

Blickpunkt: Sind eigentlich alle PML-Erkrankten gestorben?

W.W.: Zwei sind tot; der dritte hat, so weit ich weiß, mit schweren Behinderungen überlebt.

Blickpunkt: Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, unter einer Tysabri®-Behandlung an einer PML zu erkranken?

W.W.: Zur Zeit muss man noch davon ausgehen, dass das Risiko einer PML bei 1:1000 in 18 Monaten liegt. Wahrscheinlich ist es aber ohne gleichzeitige Gabe von Avonex® sehr viel geringer. Ob es etwas ausmacht, wenn man vor der Behandlung immunmodulatorisch mit Betainterferonen behandelt worden ist, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob das Risiko durch die Cortisonbehandlung eines frischen Schubes erhöht wird. Was mich aber man meisten schreckt, ist, dass wir nur das Risiko für die ersten zwei Jahre kennen. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit. Niemand weiß, wie hoch das Risiko für eine PML ist, wenn man sich fünf oder zehn Jahre mit Tysabri® behandeln lässt.

Blickpunkt: Wissen Sie etwas über die Kosten der Tysabri®-Therapie?

W.W.: Nach meinen Informationen liegen sie weit über denen der Betainterferone und betragen mehr als 20.000 Euro pro Jahr.

Blickpunkt: Befürworter der Zulassung argumentieren, dass es bei dem überzeugenden Wirkungsmechanismus und der hohen Wirksamkeit des Medikaments nicht vertretbar sei, es MS-Betroffenen vorzuenthalten - unter der Voraussetzung natürlich, kein zusätzliches Medikament zu geben, das in das Immunsystem eingreift.

W.W.: Ich kann die Ungeduld vieler MS-Betroffener gut verstehen. Anstelle der unangenehmen und nebenwirkungsreichen Spitzerei dreimal pro Woche gibt es hier die Möglichkeit, sich mit einer gut verträglichen Infusion einmal pro Monat behandeln zu lassen, und dies mit der Aussicht, dass das Medikament wesentlich wirksamer ist als die Betainterferone. Und der Wirkungsmechanismus? Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Tysabri® verhindert, dass Lymphozyten in das Gehirn eindringen, indem die Rezeptoren, mit denen sie an der Innenhaut der Hirnvenen andocken, blockiert werden. Sicher, das ist eine elegante Methode, auch die aggressiven, gegen die weiße Hirnsubstanz gerichteten Lymphozyten außen vor zu halten. Aber: Zum einen mehren sich die Hinweise, dass die MS keine Erkrankung ist, bei der primär „wildgewordene" Lymphozyten das Myelin zerstören, und zum anderen wäre es natürlich besser, wenn die Einwanderung gezielt verhindert werden könnte. Wenn man Krawalle bei der Fußballweltmeisterschaft verhindern will, dann ist es vernünftig, die Hooligans an der Grenze abzuweisen, aber natürlich nicht alle Fußballfans. Die PML-Fälle zeigen ja, wie dringend Lymphozyten im Gehirn gebraucht werden. Des Weiteren (und dies ist ein Argument, das in gleicher Weise gegen die Betainterferone gerichtet ist) gilt es keineswegs als gesichert, auch wenn es so einleuchtend klingt, dass eine Verminderung der Schub- bzw. Herdrate zu einer Besserung der Langzeitprognose führt. Was wirklich interessiert bei der MS-Therapie sind handfeste Daten darüber, wie der Langzeitverlauf beeinflusst wird. Alles andere sind fragwürdige Spekulationen, die ein Spiel mit dem Feuer nicht rechtfertigen. Dazu eine Trendmeldung aus den USA: Eine Umfrage unter 140 Neurologen ergab, dass nur 10% bereit waren, ihren MS-Patienten Tysabri® zu verordnen - und dies auch nur dann, wenn andere Therapiemaßnahmen fehlgeschlagen waren. Dem kann ich mich anschließen.

Blickpunkt: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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