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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Die Behandlung zwischen den Schüben - muss ich mich spritzen? (Teil 2)

Welche Nebenwirkungen haben die Beta-interferone?

Die Betainterferone werden von den Herstellerfirmen als gut verträglich beschrieben. Das ist eine Beschönigung. Schon allein die zweitäglichen Injektionen unter die Haut (Betaferon®, Rebif®) oder die wöchentlichen intramuskulären Injektionen (Avonex®) sind nicht nur wegen der Überwindung, die es jeden Menschen kostet, sich in den eigenen Körper zu stechen, unangenehm. Hinzu kommen die grippeähnlichen Nebenwirkungen mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und Abgeschlagenheit, die Stunden und Tage anhalten können, und nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsfähigkeit einschränken. Weiterhin treten Reizungen und Verhärtungen an den Einstichstellen auf, und einige Patient(inn)en finden nach einigen Monaten keine gesunde Stelle mehr, an der sie sich spritzen können. Außerdem kann die Spastik zunehmen. Die zunehmende Praxis, in diesen Fällen sogenannte „MS-Nurses", die von den Herstellerfirmen ausgebildet und bezahlt werden, einzusetzen, ist durchaus kritisch zu sehen.

Bei der Aufklärung oft unerwähnt bleiben die Menstruationsstörungen, ebenso wie es meist unter den Tisch fällt, dass eine Frau unter der Behandlung mit Betainterferonen nicht schwanger werden darf. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Depressionen und die Persönlichkeitsveränderungen, die unter der Therapie auftreten können; ganz abgesehen davon, dass junge Menschen auf ihre Krankheit fixiert und ihr Leben durch den Terminplan der Spritzen beherrscht wird.

Wie wirksam sind die Betainterferone?

Auch wenn in großen klinischen Studien weitgehend übereinstimmend gezeigt werden konnte, dass die Betainterferone nicht nur die Schubfrequenz, sondern auch die Zahl neuer Herde um etwa ein Drittel senken, ist der Effekt im Praxisalltag kaum sichtbar. Wenn man die Betroffenen selbst fragt, ergibt sich etwa folgendes Bild: 1/6 sind überzeugt, dass ihnen die Medikamente helfen, 1/6 haben sie wegen der Nebenwirkungen wieder abgesetzt, und 2/3 sind sich unsicher, ob sie wirken und spritzen sich vorsichtshalber weiter. Ihren behandelnden Ärzten geht es ähnlich.

Warum springt die Wirkung der Betainterferone so wenig ins Auge? Das hat einen einfachen Grund. Es ist gängige Praxis, dass Pharmafirmen die Ergebnisse von Studien, die dem Wirkungsnachweis der eigenen Medikamente dienen und die sie selbst bezahlt haben, zu „framen", d.h. werbewirksam aufzuputzen. Der häufigste Trick ist, die Resultate nicht in absoluten, sondern in relativen Werten anzugeben. Sehr gut lässt sich das am Beispiel der 1996 publizierten Avonex®-Studie zeigen.1 Unter der Behandlung mit Plazebo traten innerhalb von zwei Jahren 0,82 Schübe auf, in der mit Avonex® behandelten Gruppe 0,67 Schübe. Die Schubrate wurde also um 0,15 Schübe pro zwei Jahre reduziert. Das heißt: Ein MS-Patient muss sich 7mal 2 Jahre = 14 Jahre lang Avonex® spritzen, um einen einzigen Schub zu verhindern.

Jemand, der auf diese Weise aufgeklärt wird, würde sich wohl kaum auf eine Behandlung einlassen. Aber man kann dieselben Zahlen auch anders präsentieren: Ohne Avonex® treten 0,82 Schübe pro Jahr auf, das wird als 100% gesetzt. Mit Avonex® sind es nur 0,67 Schübe. 0,67 von 0,82 sind 73%, also reduziert Avonex® die Schubzahl um 27%. Sie werden zugeben, dass das wesentlich eindrucksvoller klingt.

Ein anderer Punkt ist, dass es sich bei der Schub-bzw. Herdreduktion um sogenannte Surrogatkriterien (Ersatzkriterien) handelt, d.h. sie messen etwas anderes als das, was die MS-Betroffenen in Wirklichkeit interessiert. Sie wollen in erster Linie wissen, ob durch die Betainterferone ihr Krankheitsverlauf gebremst und eine Langzeitbehinderung vermieden wird. Um dies jedoch festzustellen zu können, wären Studien von mindestens 10 Jahren Dauer notwendig - zu lange, um für die Hersteller von neuen Medikamenten akzeptabel zu sein. Denn die Konkurrenz schläft nicht, und selbst Studien, die nur 2 oder 3 Jahre dauern, kosten bereits um die 100 Millionen US-$. Man versucht also, die Studiendauer zu verkürzen, indem man nach Kriterien sucht, die gut messbar sind und einen verlässlichen Rückschluss auf den Langzeitverlauf ermöglichen. Dabei bieten sich Schübe und Herde geradezu an.

Allerdings hat diese Vorgehensweise gleich drei Haken: Zum einen ist Schub nicht gleich Schub (d.h. „echte" Schübe und Reaktivierungen werden gleichgesetzt), zum anderen ist Herd nicht gleich Herd (d.h. Schattenherde werden nicht von „schwarzen Löchern" unterschieden), und drittens und vor allem: Es gibt keinen überzeugenden Zusammenhang zwischen Herden und Schüben und dem Langzeitverlauf der MS!

Zu diesem überraschenden Ergebnis kam eine sorgfältig durchgeführte Studie des in Frankreich führenden MS-Epidemiologen Confavreux.2 Christian Confavreux verfügt in Lyon über eine der weltweit größten MS-Datenbanken, in der seit 1976 MS-Betroffene systematisch erfasst werden. Darunter befanden sich im Jahr 2000, also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Publikation 1562 MS-Patienten mit primär schubförmigem Beginn. Davon waren 1066 rein schubförmig geblieben, und 496 waren bereits in das sekundär progrediente Stadium (SPMS) eingetreten. Von diesen hatten 299 noch gelegentliche aufgesetzte Schübe (PRMS), 197 waren schubfrei. Confavreux verglich die Patienten mit Schüben mit denen ohne Schübe. Die Fragestellung war, inwieweit die Schübe einen Einfluss auf die Krankheitsprogression haben. Das Ergebnis: Die Krankheitsprogression von Patienten mit SPMS war unabhängig davon, ob sie weitere Schübe hatten oder nicht. Die Autoren schlossen: Wenn Medikamente die Schubzahl reduzieren, müssen sie nicht unbedingt auch die Krankheitsprogression verzögern. Ich schließe mit einem letzten Einwand gegen die Wirksamkeit der Betainterferone. Er fußt darauf, dass aufgrund der Nebenwirkungen keine zuverlässige Verblindung in den Studien möglich war. Ein Großteil der Behandelten wusste also, ob sie sich Betainterferone oder Kochsalz spritzten. Dies könnte das Ergebnis im Sinne eines Riesenplaceboeffekts verfälscht haben.

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