Multiple Sklerose - kurz und bündig
2 Die Ursache der MS liegt immer noch im Dunkeln.
Die Multiple Sklerose (MS) ist bei jungen Erwachsenen die häufigste Erkrankung des Gehirns und des Rückenmarks. In Deutschland sind etwa 130.000 Menschen betroffen. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Die Erkrankung beginnt typischerweise zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, bei 5% jedoch schon vor dem 15. Geburtstag. Klinisch ist sie durch einen schubförmigen Verlauf und die bunte Symptomatik mit Verschwommensehen, Doppelbildern, Taubheitsgefühlen, Lähmungen und Gleichgewichtsstörungen gekennzeichnet.
Den vielfältigen Beschwerden liegen kleine Entzündungsherde zugrunde, die anscheinend wahllos über das Gehirn und das Rückenmark verstreut sind. Sie sind im Kernspintomogramm als „weiße Flecken“ oder als „schwarze Löcher“ nachweisbar.
Die Diagnose der MS stützt sich auf fünf Säulen:
- die Symptomatik, die typischerweise „bunt“ ist;
- den schubförmigen Verlauf;
- die Entzündungszeichen im Rückenmarkswasser;
- die „weißen Flecken“ im Kernspintomogramm und
- den Nachweis einer Verlangsamung der Nervenleitung im Sehnerven.
Die Ursache der Erkrankung bleibt trotz aller Anstrengungen weiter im Dunkeln. Vermutet wird neben einer erblichen Disposition ein viraler Infekt in der Kindheit, der erst Jahre oder Jahrzehnte später zu einer Autoaggressionskrankheit mit Zerstörung der weißen Hirnsubstanz führt. Heftig umstritten ist die Frage, ob die MS durch seelische Erschütterungen ausgelöst und unterhalten wird. Seit der Einführung der Kernspintomographie werden immer häufiger leichte und leichteste Verlaufsformen diagnostiziert, die früher unentdeckt geblieben sind. Damit hat sich das Erscheinungsbild der Erkrankung deutlich zum Positiven verbessert. Es kann davon ausgegangen werden, dass die MS in mehr als zwei Drittel der Fälle einen milden Verlauf nimmt, also die Lebenserwartung nicht wesentlich verkürzt und zu keiner oder nur einer unwesentlichen Behinderung führt.
2.1 Was ist zur Ursache der MS bekannt?
Zur Ursache der MS gibt es nur Vermutungen. Seit Jahrzehnten hält sich ohne wesentliche Korrekturen die Hypothese, dass für die Entstehung der Erkrankung drei Faktoren zusammenkommen müssen
- eine erbliche Disposition;
- ein Umweltfaktor (Virusinfekt?) in der Kindheit; und
- ine fehlgeleitete Autoimmunreaktion.
Sicher ist, dass bei der MS ein Erbfaktor eine Rolle spielt. In der sorgfältigsten Studie zu dieser Frage fand George C. Ebers, dass die MS bei eineiigen Zwillingen in 34% konkordant auftrat im Vergleich zu 4% bei zweieiigen. Das Ergebnis zeigt aber auch, dass die erbliche Veranlagung allein nicht ausreicht, um eine MS auszulösen.
Frage aus der Praxis Eine Mutter, die an MS erkrankt ist, fragt: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind auch eine MS bekommt?“ Antwort: Das Risiko, an einer MS zu erkranken, beträgt in Deutschland 1:1000. Wenn Vater oder Mutter eine MS haben, steigt das Risiko um das 20fache. Das scheint enorm viel zu sein, bedeutet aber, dass nur eins von 50 Kindern (2%) eine MS bekommen wird. |
2.2 Gab es eine MS-Epidemie auf den Färöer-Inseln?
Für die Mitwirkung eines infektiösen Faktors (Virus? Bakterium?) gibt es nur Indizien, z.B. die MS-„Epidemie“ auf den Färöer-Inseln. Im April 1940 besetzten englische Soldaten die Färöer, eine kleine Inselgruppe in der Mitte zwischen Schottland und Island. Bis zu diesem Zeitpunkt lang hatte es dort keine MS gegeben. Dann kam es 1943 bis 1986 zu 41 MS-Erkrankungen. Die Vermutung, es handele sich um einen von den Soldaten eingeschleppten Erreger, gegen den sie selbst immun, aber mit dem die Eingeborenen bislang nicht in Berührung gekommen waren, war naheliegend, konnte jedoch nicht erhärtet werden.
2.3 Wie sicher ist der Breitengradeffekt?
Auch der Breitengradeffekt, also die vielfach zitierte Beobachtung, dass die MS umso seltener wird, je mehr man sich dem Äquator nähert, verwischt sich. Früher galt er als Indiz dafür, dass der MS-Erreger, falls es einen geben sollte, sich in kühlen und feuchten Gegenden wohl und in heißen und trockenen unwohl fühlen müsse. Es kann jedoch auch sein, dass die Erkrankungshäufigkeit mit dem Zivilisationsgrad zunimmt. Hierbei kommen sowohl die völlig verschiedene Lebensweise der Menschen z.B. in Nigeria in Vergleich zu Deutschland, aber natürlich auch die besseren diagnostischen Möglichkeiten in den reicheren Ländern in Frage.
2.4 Wie lassen sich die Migrationsstudien deuten?
Dass der Keim der Erkrankung in der Kindheit erworben wird, ergibt sich als Schlussfolgerung aus den Migrationsstudien: Menschen, die vor dem 15. Lebensjahr aus einem Land mit hoher in ein Land mit niedriger Erkrankungswahrscheinlichkeit auswandern, nehmen das geringe MS-Risiko ihres Gastlandes an, während Auswanderer, die älter als 15 sind, das hohe MS-Risiko ihres Heimatlandes behalten. Somit scheint der für die MS disponierende Kontakt in der Kindheit bzw. Pubertät stattzufinden.
2.5 MS und Tollwut
Sogar die Kernthese der MS-Forschung, dass es sich nämlich bei der MS um ein Autoimmungeschehen handelt, wird zunehmend bezweifelt. Die Wurzeln der Hypothese von den „wildgewordenen Lymphozyten“ reichen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als im Zusammenhang mit der Tollwut-Schutzimpfung in vereinzelten Fällen Komplikationen auftraten. Wenige Tage bis Wochen nach der Impfung entwickelten die Betroffenen Lähmungserscheinungen, Taubheitsgefühle und Hirnnervenausfälle und starben kurze Zeit später. Man sprach von einer postvakzinalen Encephalomyelitis. Weder das klinische Bild, noch die mikroskopisch nachweisbaren Hirnveränderungen hatten eine Ähnlichkeit mit der Tollwut, aber die perivenösen Entzündungsherde erinnerten vage an die MS.
2.6 Ist die MS eine Autoimmunkrankheit?
Dennoch wurden die Impfkomplikationen fast ein halbes Jahrhundert lang auf das abgeschwächte Tollwutvirus zurückgeführt, bis Rivers 1937 fand, dass Affen, denen das Rückenmarksgewebe von Kaninchen injiziert worden war, Symptome entwickelten, die mit der Impfreaktion identisch waren. Erst jetzt erkannte man, dass die postvakzinale Encephalomyelitis auf einer Überempfindlichkeitsreaktion gegen das artfremde Rückenmarksgewebe beruhte. Das Tollwutvirus wurde nämlich im Gehirn und Rückenmark von Kaninchen gezüchtet, und der Impfstoff war mit Resten davon verunreinigt.
2.7 Das Tiermodell der MS
So entstand die Hypothese, dass es sich bei der MS um eine Überreaktion des Immunsystems gegen die weiße Hirnsubstanz handele, und entwickelte daraus das Tiermodell der MS, die experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE).
Unsere heutigen Vorstellungen vom Ablauf der immunologischen Vorgänge bei der MS beruhen im Wesentlichen auf der Erforschung dieser künstlich bei Tieren erzeugten Krankheit: Ein Virus, ein anderer Erreger oder eine andere entzündliche Reaktion auf einen Umweltreiz stimulieren im peripheren Blut T-Lymphozyten, die spezifisch gegen Bestandteile der weißen Hirnsubstanz gerichtet sind. (Autoreaktive, gegen das Myelin gerichtete T-Lymphozyten, sind übrigens auch im Blut von Gesunden nachweisbar.) Die aktivierten Immunzellen bleiben am Endothel der Hirngefäße „kleben“, durchdringen die Blut-Hirn-Schranke und erfahren im Gehirn bzw. im Rückenmark eine zusätzliche Steigerung ihrer Aktivität, wenn sie mit Astrozyten in Kontakt kommen, die ihnen auf ihrer Oberfläche Myelinbestandteile präsentieren. Im nächsten Schritt setzen sie Zytokine, wie z.B. das Gamma-Interferon, frei, die zu einer Entzündungskaskade führen, an deren Ende die herdförmige Zerstörung der weißem Hirnsubstanz steht.
2.8 Ist die allergische experimentelle Encephalomyelitis ein geeignetes MS-Modell?
Obwohl die EAE als das am besten untersuchte Tiermodell einer Autoimmunerkrankung gilt, werden Stimmen von MS-Experten immer lauter, dass die EAE zwar ein Modell für die sogenannte „akute“ MS sei (eine monophasisch verlaufende perakute Sonderform der MS), aber nichts mit der MS im eigentlichen Sinn zu tun habe. Tatsächlich hat die EAE vier Schönheitsfehler:
- gelang es nur bei einem kleinen Teil der Tiere, durch eine Injektion von artfremdem Hirngewebe allein eine Entzündung hervorzurufen. Die Ausbeute wurde erst größer, als man nach vielen vergeblichen Versuchen das zerriebene Hirngewebe mit Tuberkelbakterien und Mineralöl (!) versetzte;
- erkranken die Tiere nach wenigen Tagen und nicht, wie im Falle der MS, nach einer längeren Latenzzeit.
- weisen die histopathologischen Veränderungen nur geringe Ähnlichkeiten mit MS-Herden auf; und
- verläuft die Krankheit (außer bei genetisch veränderten Meerschweinchen und Pinseläffchen) weder schubförmig noch chronisch
Somit sind die Bedingungen, die zur EAE führen, weit von den möglichen natürlichen Ursachen der MS entfernt, und die Zweifel, ob es sich bei EAE und MS um vergleichbare Krankheiten handelt, sind nicht von der Hand zu weisen.
2.9 Sind die Lymphozyten wirklich die Schurken, für die sie lange gehalten wurden?
Die Bedenken gegen die Autoimmungenese werden genährt durch eine histopathologische Studie, die im Februar 2004 in den Annals of Neurology erschien. Der angesehene Neuropathologe Prineas untersuchte die Hirngewebsprobe eines 14jährigen Mädchens, das 17 Stunden nach dem Beginn eines Schubes verstorben war. Ein frischer Herd, der in weniger als einem Tag histologisch untersucht werden konnte, war bisher einzigartig in der Geschichte der MS-Forschung. Wenn die bisherige MS-Theorie stimmen würde, dann hätte man den Beginn einer Invasion von Lymphozyten finden müssen. Zu seiner Überraschung fand Prineas jedoch, dass die Myelinscheiden im Herd intakt waren und kein einziger Lymphozyt nachweisbar war. Was er stattdessen sah, waren sterbende Oligodendrozyten.
Dieser Befund scheint die bisherige MS-Forschung auf den Kopf zu stellen. Eine mögliche Schlussfolgerung ist, dass die Lymphozyten möglicherweise seit Jahrzehnten verkannt worden und keineswegs die Schurken sind, für die sie bisher gehalten wurden. Sie stehen nicht am Anfang des Zerstörungsprozesses, sondern sind möglicherweise im Gegenteil Träger von Reparaturmaßnahmen. Falls sich dies als richtig herausstellen sollte, wären die Auswirkungen auf die MS-Therapie unabsehbar, denn alle bisherigen MS-Medikamente von Cortison über die Betainterferone und das Glatirameracetat (Copaxone®) bis hin zu dem gerade in den USA zugelassenen Natalizumab (Tysabri®) beruhen auf einer Modulation oder Suppression der Lymphozytenaktivität.
2.10 Auf der Suche nach dem MS-Erreger: Borrelien und Chlamydien
In den 80er Jahren wurde eine neue Krankheit entdeckt: die Borreliose. Ursache ist ein korkenzieherartig gewundenes Bakterium, eine Spirochäte. Sie wird durch Zecken übertragen. Im typischen Fall tritt Tage oder Wochen nach einem Zeckenbiss eine Hautrötung um die Bissstelle auf, die sich wie ein Tintenfleck auf einem Löschpapier immer weiter ausbreitet und schließlich in der Mitte abblasst. Man spricht von einer wandernden Hautröte oder einem Erythema chronicum migrans. Wiederum einige Wochen später kann es dann im infizierten Gebiet zu heftigsten Schmerzen kommen.
Nun ist diese akute Form der Borreliose mit einer MS natürlich überhaupt nicht zu verwechseln. Allerdings gibt es auch eine chronische, schubartig verlaufende Form der Borreliose, die in Einzelfällen eine entfernte Ähnlichkeit mit einer MS haben kann. Deshalb hatten anfänglich viele MS-Patienten, aber auch Ärzte, gehofft, dass sich hinter vielen MS-Erkrankungen in Wirklichkeit eine Borreliose verberge, die ganz einfach mit Penicillin ausgeheilt werden könne, zumal auch in den Fällen von echten Borreliosen der Zeckenbiss häufig nicht erinnert wird.
Diese Hoffnung hat sich leider nicht bestätigt. Die Bedeutung der Borreliose als Differentialdiagnose zur MS wird weit überschätzt. Wir haben über lange Jahre routinemäßig bei allen MS-Patienten die Borrelienserologie mitveranlasst, aber ich erinnere mich an keinen Fall, dass eine primär diagnostizierte MS in Wirklichkeit eine Borreliose war.
Etwas verwirrend ist, dass bei vielen Menschen der Antikörper-Titer gegen Borrelien erhöht ist. Das heißt aber nicht, dass sie unter einer Borreliose leiden, sondern nur, dass ihr Blut bzw. ihre Lymphozyten irgendwann einmal in ihrem Leben mit Borrelien in Berührung gekommen sind und den Erreger erfolgreich abgewehrt haben.
Auch kenne ich aus der Fachliteratur nur eine einzige Fallstudie, in der berichtet wird, dass ein holländischer Junge mit einer fortschreitenden Lähmung der Beine ein Jahr lang unter der Diagnose MS lief, während er in Wirklichkeit eine Neuroborreliose hatte. Allerdings war von den behandelnden Ärzten übersehen worden, dass er weit mehr als 100/3 Zellen im Liquor hatte, also einen Befund, der nicht zur MS passte und hätte stutzig machen müssen. Von einer hochdosierten Behandlung mit Antibiotika „auf Verdacht hin“ ist dringend abzuraten, auch wenn viele Patienten, die sich auf einschlägigen Internet-Seiten informiert haben, darauf drängen.
2.11 Ist das EBV der gesuchte MS-Erreger?
Wesentlich heißer ist eine andere Spur, die zum Epstein-Barr-Virus (EBV) führt. Das EBV gehört zu der Gruppe der Herpesviren und irgendwann einmal im Leben befällt es 60-90% der Normalbevölkerung. In der Kindheit läuft die Infektion üblicherweise unbemerkt ab, kann aber in der Pubertät zum Pfeifferschen Drüsenfieber führen. Aus fünf Gründen gilt es als hochverdächtig:
- Bei allen MS-Patienten sind ohne Ausnahme Antikörper gegen EBV nachweisbar
- Die Wahrscheinlichkeit, an einer MS zu erkranken, nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber ist um das Zwei- bis Dreifache erhöht.
- Vor kurzem konnte nachgewiesen werden, dass der Antikörpertiter vor Ausbruch der MS im Vergleich zu Kontrollen hochsignifikant erhöht ist.
- Es ist gezeigt worden, dass viele MS-Schübe von einem Anstieg der Antikörpertiter gegen das Epstein-Barr-Virus begleitet werden.
- 2007 gelang es einem italienischen Forscherteam, in 20 von 21 Hirngewebsproben von MS-Betroffenen EBV-Marker in den Herden und in den Hirnhäuten nachzuweisen [B Serafini e.a. Dysregulated Epstein-Barr virus infection in the multiple sclerosis brain. J Exp Med 2007 Nov 5].
2.12 Die EBV-Stress-Hypothese
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich unter bestimmten Bedingungen, z.B. durch Stress, in der weißen Hirnsubstanz ein Eiweiß ausbildet, das unter normalen Bedingungen nicht im Gehirn vorkommt: das αβ-Cristallin. Es hat die bemerkenswerte Eigenschaft, im Reagenzglas eine starke Vermehrung von Lymphozyten zu fördern, die von MS-Erkrankten stammen, während normales Myelin keine Reaktion hervorruft. Sein Erkennungsmerkmal ist ein „Motiv“ von 5 Aminosäuren in der Reihenfolge R-R-P-F-F. Genau dieses R-R-P-F-F kommt im Eiweißmantel des Epstein-Barr-Virus vor. Aus diesen Befunden wurde die EBV-Stress-Hypothese abgeleitet: Irgendwann einmal in der Kindheit oder Pubertät ist zu einer harmlosen Virusinfektion gekommen, die der oder die Betroffene nicht einmal bemerkt hat. Die Lymphozyten bilden Antikörper gegen R-R-P-F-F. Kommt es im Erwachsenenalter unter Stress zur Ausbildung des αβ-Cristallins im Myelin, wird es für einen Virusbestandteil gehalten und von den „allergisierten“ Lymphozyten angegriffen und zerstört.1
2.13 Zusammenfassung
Die MS ist vermutlich eine multifaktorielle Krankheit. Eine erbliche Disposition kann als sicher gelten. Hinzukommen muss jedoch ein schädigender Einfluss aus der Umwelt (Virus? Schadstoffe in der Ernährung? Umweltgifte?), mit dem der später Betroffene wahrscheinlich in der Kindheit in Berührung kommt. Aber auch dieser Faktor scheint nur notwendig, aber keineswegs hinreichend zu sein, so dass ein zusätzliches auslösendes Geschehen im Erwachsenenalter angenommen werden muss.
1 B Serafini e.a. Dysregulated Epstein-Barr virus infection in the multiple sclerosis brain. J Exp Med 2007 Nov 5