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MS-Forum Dr. Weihe

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Multiple Sklerose - kurz und bündig


4 Diagnose

4.1 Die 5 Säulen der MS-Diagnose

Die Diagnose der MS stützt sich auf fünf Säulen:

4.2 Beispiel: Brigitta ist 19 Jahre alt. Sie hatte gerade ihr Medizinstudium begonnen, als sie vor 2 Jahren morgens beim Kämmen der Haare bemerkte, dass ihr Spiegelbild verschwommen war. Sie versuchte den Wasserdampf von der kalten Scheibe zu wischen, aber daran lag es nicht. Die Sehstörung bildete sich innerhalb von einer Woche wieder vollständig zurück, so dass sie ihr keine weitere Beachtung schenkte. Vor einem Jahr erkrankte sie plötzlich an Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Tagelang ging sie „wie betrunken“. Wenn sie den Kopf nach vorn beugte, verspürte sie elektrisierende Missempfindungen, die die Wirbelsäule hinabstrahlten. Tagelang blieb sie im Bett und auch diesmal besserte sich ihr Zustand langsam wieder, ohne dass sie einen Arzt hätte aufsuchen müssen. Jetzt verspürt sie eine Schwäche des rechten Beins zusammen mit einem bandartigen Druckgefühl in Höhe des rechten Rippenbogens, als sei sie „in ein Korsett geschnürt“. Sie kann nicht lesen, denn die Buchstaben „tanzen“ vor ihren Augen, wobei ihren Eltern auffiel, dass ihre Augäpfel ruckartig hin- und herzucken. Hinzu kommt eine Ungeschicklichkeit der linken Hand. Es gelingt ihr nicht, eine Tasse zum Mund zu führen, ohne etwas zu verschütten.

4.3 Die „bunte“ Symptomatik

Wenn man ihre Krankheitsgeschichte genauer beleuchtet, kann man im Nachhinein sagen, dass die Krankheit im Alter von 20 Jahren mit einer Sehnervenentzündung begann, die sich als Verschwommensehen manifestierte. Ein Jahr später kam es zum zweiten Schub mit Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Dazu trat ein Symptom, das ebenfalls für die MS hochgradig charakteristisch ist: die stromartigen Missempfindungen beim Beugen des Kopfes nach vorn (Lhermittesches Zeichen). Jetzt ist neben einem bandförmige Druckgefühl, das auf einen frischen Entzündungsherd im Brustmark hindeutet, zu einem Nystagmus und einer Ataxie der rechten Hand gekommen. Das Kernspintomogramm zeigt mehrere kleine weiße Punkte im Gehirn. Im Liquor waren die sogenannten oligoklonalen Banden positiv. Außerdem ist die Leitungsgeschwindigkeit im rechten Sehnerven deutlich verzögert.

Damit sind alle fünf Kriterien, die für die Diagnose einer MS wichtig sind, sind erfüllt: Die Symptomatik ist mit den Sehstörungen, dem Schwindel, dem Lhermitteschen Zeichen, dem Korsettgefühl, dem Nystagmus und der Ataxie „bunt“, und der Verlauf ist schubförmig mit vollständiger Rückbildung der Ausfälle innerhalb von ein paar Wochen. In der Kernspintomographie sind MS-typische Herde nachweisbar, das Rückenmarkswasser ist entzündlich verändert und die Leitung im rechten Sehnerven verlängert.

Klinischer Blick oder Poser-Kriterien?

Als Faustregel gilt: Sind mehr als drei der Diagnosekriterien erfüllt, dann ist die Diagnose einer MS sicher, sind drei erfüllt, ist sie wahrscheinlich, und wenn weniger als drei erfüllt sind, ist sie fraglich. Wissenschaftlich korrekter sind die nach dem amerikanischen MS-Forscher Charles M. Poser benannten Poser-Kriterien.

Klinisch eindeutige MS

  • Wenigstens zwei Schübe und Nachweis von oligoklonalen Banden im Liquor oder MS-typische Veränderungen im Kernspintomogramm
  • wenigstens 1 Jahr primär chronische Entwicklung und oligoklonale Banden im Liquor oder MS-typische Veränderungen im Kernspintomogramm.

Klinisch wahrscheinliche MS

  • Wenigstens zwei Schübe mit klinischen Befunden, die sich auf einen Herd beziehen lassen (monofokal);
  • ein Schub mit Befunden, die nur durch die Annahme mehrerer Herde im ZNS zu erklären sind (multifokal), oder mit monofokalen Befunden und Liquor oder Kernspintomogramm MS-typisch;
  • wenigstens 1 Jahr primär chronische Entwicklung monofokaler Befunde und Liquor oder NMR MS-typisch.

Klinisch mögliche oder fragliche MS

  • Der klinische Befund, der Liquor und die Kernspintomographie sind nicht ausreichend charakteristisch für eine MS, aber es gibt keine Diagnose, welche die vorhandene Symptomatik besser erklärt als die MS.

Diese Kriterien sind weltweit anerkannt und für wissenschaftliche Untersuchungen wichtig. In der täglichen Praxis spielen sie eine untergeordnete Rolle. Bisher ist es nur ein Wunschtraum technisch orientierter Ärzte, man könne die Symptome eines Patienten in einen Computer eingeben, und dieser werde dann die Diagnose „errechnen“. Tatsächlich werden die meisten Diagnosen nicht aufgrund von Diagnoseschemata gestellt, sondern durch Erfahrung und den „klinischen Blick“ des Arztes. Kurz gesagt: Die Poser-Kriterien sind gut für Studien, unbefriedigend in der Praxis; gut als Orientierung für den Anfänger, aber überflüssig für den Erfahrenen.

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