Multiple Sklerose - kurz und bündig
5 Liquor
Kurz gesagt, geht es bei der Liquoruntersuchung nur darum, ob die so genannten oligoklonalen Banden nachweisbar sind oder nicht. Alle anderen Befunde (z.B. eine Schrankenstörung) sind irrelevant.
5.1 Was ist die Blut-Hirn-Schranke?
Bevor wir auf die berühmten oligoklonalen Banden zu sprechen komme, empfiehlt es sich, kurz auf die mysteriöse Blut-Hirn-Schranke einzugehen. Viele wundern sich z.B. darüber, dass bei der MS, obwohl sie eine Entzündungskrankheit ist, keine Entzündungszeichen im Blut gefunden werden. Jeder weiß, dass eine Lungenentzündung, aber auch eine Halsentzündung oder ein chronisches Rheuma zu einer Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) führt. Bei der MS ist die BSG normal. Warum? Die Erklärung ist, dass die Antikörper, die im Gehirn oder im Rückenmark gebildet werden, aus einem geheimnisvollen Grund nicht ins Blut gelangen. Es muss also so etwas wie eine Schranke oder ein Filter zwischen dem zentralen Nervensystem und dem übrigen Körper existieren.
Diese lässt sich am besten mit den beiden Versuchen nachweisen, die der Neurologe Goldmann Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt hat. Goldmann spritzte Ratten einen blauen Farbstoff in die Vene. Als er die Tiere nach einem Tag tötete und untersuchte, fand er, dass sich alle Organe blau angefärbt hatten - mit Ausnahme von Gehirn und Rückenmark. In einem zweiten Versuch injizierte er den Farbstoff in die Hirnkammern. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass der Farbstoff nun nur in Gehirn und Rückenmark nachweisbar war, während die übrigen Organe ungefärbt geblieben waren. Damit ist die Existenz einer Schranke zwischen dem zentralen Nervensystem und dem übrigen Körper auf eine elegante Weise bewiesen worden.
Man fragt sich natürlich, wie diese Schranke anatomisch aussieht. Es handelt sich einfach um das Endothel, die Innenhaut der Hirngefäße, das nur für ganz bestimmte Stoffe durchlässig ist. Das liegt daran, dass die Fugen zwischen den plattenförmigen Endothelzellen an der Blut-Hirnschranke verkittet sind, während sie im übrigen Körper schmale Spalträume bilden, die für im Blut gelöste Stoffe frei passierbar sind.
5.2 Was sind „Oligoklonale“?
Die oligoklonalen Banden gehören zur Gruppe der Immunglobuline. Dabei handelt es sich um Antikörper, die von Lymphozyten gegen körperfremde Substanzen, z.B. eine fremdartige Kette von Aminosäuren im Eiweißmantel eines Virus, gebildet werden. Da die Moleküle groß und sperrig sind, können sie die Blut-Hirn-Schranke schlecht passieren, das heißt, wenn sie im Liquor gefunden werden, aber im Blut bzw. der Blutflüssigkeit (Serum) nicht nachweisbar sind, dann ist das ein Beweis, dass sie jenseits der Blut-Hirn-Schranke, also im Gehirn, gebildet worden sind. Dies findet aber nur im Rahmen eines Entzündungsvorganges statt, hierbei muss es sich jedoch nicht unbedingt um eine MS handeln.
Abb.: Oligoklonale Banden |
Wie kann man sie nachweisen? Ganz einfach. Wenn man einen Tropfen Blutflüssigkeit auf einen Streifen Löschpapier bringt und an diesen eine Spannung anlegt, so dass sich der positive Pol am anderen Ende befindet, so werden die Eiweißmoleküle, die stark negativ geladen sind, zum positiven Pol wandern. Dies tun sie um so langsamer, je sperriger sie sind. Auf diese Weise werden sie voneinander getrennt, und es entstehen auf dem Löschpapier schmale Bänder, die von Antikörpern gleicher Art gebildet werden. Wiederholt man dasselbe mit Liquor, den man entsprechend konzentriert hat, bilden sich dieselben Bänder aus, denn hierbei handelt es sich um geringe Konzentrationen von Eiweißen, die durch kleine Risse in der Blut-Hirn-Schranke „geleckt“ sind. Wenn sich aber im Liquor Bänder (Banden) zeigen, die im Blut fehlen, dann ist bewiesen, dass diese Antikörper im Gehirn oder im Rückenmark entstanden sind. Da die oligoklonalen Banden immer nur im Vergleich mit dem Blut nachgewiesen werden können, müsste man korrekt sagen: Die oligoklonalen Banden sind im Liquor positiv und im Blut negativ, aber es hat sich eingebürgert, von „positiven Oligoklonalen“ zu sprechen.
Die Abbildung oben zeigt, dass im Liquor zwei Banden nachweisbar sind, die im Serum fehlen. Damit ist zwar bewiesen, dass hier ein chronischer entzündlicher Prozess im ZNS vorliegt, allerdings nicht, dass es sich dabei um eine MS handeln muss.
Frage aus der Praxis: Eine 21jährige Stenotypistin leidet seit 2 Tagen unter einer Gangunsicherheit und einem ringförmigen Druckgefühl unterhalb des Rippenbogens. Neurologisch findet sich eine linksbetonte Paraspatik. Vor einem halben Jahr sind vorübergehend Doppelbilder aufgetreten. Das MRT des Kopfes zeigt wenige, aber MS-typische periventrikuläre Herde. „Der Ordning halber“ wird punktiert. Die Oligoklonalen sind negativ. Heißt das, dass die MS-Diagnose auf wackeligen Beinen steht? Nein. Die Diagnose einer MS ist – Poser-Kriterien hin oder her – sicher. In Frühstadien der MS können die Oligoklonalen in mehr als der Hälfte der Fälle falsch negativ sein. |
5.3 Muss bei Verdacht auf MS immer punktiert werden?
Nicht wenige Neurologen bestehen auf der Liquoruntersuchung, bevor sie die Diagnose einer MS stellen. „Das gehört einfach dazu“, argumentieren sie. Schließlich sei es ja nicht nur wichtig, nachzuweisen, dass sich im Gehirn weiße Punkte befänden, sondern auch, dass diese weißen Punkte eine entzündliche Ursache hätten. Sie sagen also, dass man das „Multiple“ im Kernspintomogramm nachweist, aber den Entzündungsprozess im Liquor.
Gegen diese Argumentation ist wenig einzuwenden. Sie ist plausibel. Manchmal stellt sich ein Arzt jedoch auf einen anderen Standpunkt. Er denkt: „Wenn es sich bei dieser jungen Frau um meine Tochter handeln würde, würde ich dann auch nur der Ordnung halber punktieren?“
Aus meiner Sicht ist die Liquorpunktion in vielen Fällen entbehrlich. Sie ist nicht gefährlich, aber sie ist doch in einigen Fällen unangenehm. Darum sollte man sie nur durchführen, wenn wirklich etwas davon abhängt. Hat jemand zum Beispiel eine Sehnervenentzündung und im Kernspintomogramm MS-typische weiße Flecken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie eine MS hat, sehr groß. Wenn ich punktiere und die „Oligoklonalen“ positiv sind, bestätigt der Befund, was ich vorher schon wusste, wenn sie negativ sind (was zu Beginn der MS sogar nicht unwahrscheinlich ist), ist damit die Diagnose um keinen Deut unsicherer geworden.
5.4 Zusammenfassung
Die Diagnose der MS stützt sich auf fünf Säulen: 1. die „bunte“ Symptomatik, 2. den schubförmigen Verlauf, 3. die „weißen Flecken“ und „schwarzen Löcher“ im Kernspintomogramm, 4. die „Oligoklonalen“ im Liquor und 5. auf die Verzögerung der VEP. Der Neuropathologe unterscheidet vier unterschiedliche Herdarten, die auch im Kernspintomogramm gut zu unterscheiden sind. Vor allem in zwei Herdtypen scheint die Zerstörung von Axonen besonders ausgeprägt zu sein: den „schwarzen Löchern“ und den „Ringstrukturen“. Sie kommen in etwa 1/3 der MS-Betroffenen vor und deuten auf eine ungünstigere Prognose hin.