Multiple Sklerose - kurz und bündig
10 Die Behandlung des frischen MS-Schubs
10.1 Die Wirkung von Cortison ist zauberhaft.
Nachdem wir das Wichtigste zur Ursache, Diagnose und zum Verlauf der MS wissen, haben wir alle Voraussetzungen zusammen, um uns der Frage zuwenden zu können: Wie wird die MS richtig behandelt? Lassen Sie uns mit der Behandlung des frischen Schubes beginnen.
Über Nacht hat sich die Krankheit, die Frauke schon fast vergessen hatte, wieder gemeldet, und mit ihr ist auch die Angst zurückgekehrt. Wird sich diese ekelhafte Pelzigkeit am linken Oberschenkel wieder zurückbilden? Was wird noch hinzukommen? Könnte es sogar sein, dass dieser Schub den Umschwung in das progrediente Stadium einleitet?
Frauke erinnert sich noch gut an die rasch zunehmende Gangstörung vor zwei Jahren, die sie ans Bett fesselte. Bereits unter der ersten Infusion mit Cortison hatten sich ihre Lebensgeister wie durch ein Wunder wieder erholt, und schon am nächsten Tag war sie in der Lage gewesen, einige Schritte zu gehen. Was wäre also naheliegender, dasselbe jetzt zu wiederholen und zwar so schnell wie möglich? Schließlich würde man ja auch bei einer Lungenentzündung nicht wertvolle Zeit mit Abwarten zu vergeuden, sondern gleich mit der Penicillinbehandlung beginnen?
So wie Frauke denken viele MS-Betroffene, aber auch viele Ärzte. In Deutschland werden schätzungsweise neun von zehn Schüben mit der sogenannten Cortison-Stoßtherapie behandelt.
Praktische Durchführung der Cortison-Stoßtherapie in der Klinik Am Tag vor Beginn der Cortisontherapie: Blutsenkungsgeschwindigkeit, Blutbild, Urinstatus, um eine frische Infektion auszuschließen. Als Magenschutz nachmittags 300 mg Sostril® und als Thromboseprophylaxe 1 A Liquemin® s.c.. 1. Tag: 1000 mg Methylprednisolon in 250 ml NaCl-Lösung in einer ½ Stunde. Nachmittags 300 mg Sostril® und 1 A Liquemin®. 2. Tag: 1000 mg Methylprednisolon in 250 ml NaCl-Lösung in einer ½ Stunde. Nachmittags 300 mg Sostril® und 1 A Liquemin®. 3. Tag: 1000 mg Methylprednisolon in 250 ml NaCl-Lösung in einer ½ Stunde. Nachmittags 300 mg Sostril® und 1 A Liquemin®. Am Tag nach Beendigung der Cortisontherapie: 300 mg Sostril® und 1 A Liquemin®. |
Diese wird meist in der Klinik durchgeführt und besteht in der Regel aus je einer Infusion mit 1000mg Methylprednisolon (z.B. Urbason®) an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Welches Cortisonpräparat man dabei wählt, ist unwichtig, man muss nur die unterschiedlichen Stärken der Cortisonpräparate berücksichtigen: Im Vergleich zu dem körpereigenen Cortison, dem Hydrocortisol, hat Methylprednisolon die fünffache und das mächtigste Cortison, das Dexamethason (Fortecortin®), die 25fache Stärke. In manchen Krankenhäusern wird also dieselbe Therapie mit dreimal je 200mg Fortecortin® durchgeführt. Aber in den meisten Kliniken hat sich das Urbason® durchgesetzt.
Der Effekt ist tatsächlich oft zauberhaft. „Die Symptome schmelzen weg wie der Schnee in der Sonne“, sagen manche Patienten. Allerdings lässt die Wirkung mit der Häufigkeit der Anwendung nach. Eine Faustregel ist, dass Cortison beim ersten Schub sehr gut, beim dritten nur noch mäßig und beim fünften praktisch nicht mehr wirkt. Als noch beeindruckender wird die Wirkung dadurch empfunden, dass Cortison auf viele Menschen euphorisierend wirkt, das heißt, sie fühlen sich heiter und aktiv, so als ob sie Bäume ausreißen könnten. Nicht selten überschreitet allerdings dieser Doping-Effekt das angenehme Maß und wird zu einer getriebenen Unruhe, mit Gedankenjagen, Gereiztheit und quälenden Schlafstörungen. Sogar echte Manien mit einem unbändigen Rededrang und Größenphantasien kommen vor. Eine meiner Patientinnen meinte in einem solchen Zustand, sie sei unverletzlich, balancierte im zweiten Stock auf der Brüstung einer Terrasse, stürzte in die Tiefe und brach sich beide Oberschenkel und das linke Handgelenk. Weitere Gefahren durch die Behandlung sind vor allem Magengeschwüre, Thrombosen und die gefürchtete Hüftkopfnekrosen.
Fraukes Onkel ist Neurologe. Er ist ein Arzt von altem Schrot und Korn und bereits 67 Jahre alt. Seine Praxis hat er vor kurzem aufgegeben. Sie besucht ihn eigentlich nur zur Bestätigung ihrer schon getroffenen Entscheidung. Zu ihrer Überraschung rät er ihr von einer Behandlung ab.
„Warte doch erst einmal ab, ob es nicht von selbst wieder besser wird“, sagt er.
„Aber sollte ich nicht so schnell wie möglich handeln?“
„Nein“, versucht er sie zu beruhigen, „es besteht überhaupt keine Gefahr im Verzuge. Wie der Schub wieder abklingt, ist völlig unabhängig davon, ob du dich mit Cortison behandeln lässt.“
„Das verstehe ich nicht. Ich habe doch am eigenen Leib gespürt, wie die Infusionen wirken. Das war doch keine Einbildung.“
„Nein, natürlich nicht. Du musst dir das so vorstellen: Wenn sich in deinem Gehirn ein frischer Entzündungsherd ausbildet, dann wird dieser von deinem Immunsystem wie ein Fremdkörper, also wie ein Holzsplitter in der Haut angesehen, und es leitet Abwehrvorgänge ein, an deren Anfang eine wässrige Schwellung steht, das sogenannte Umgebungsödem. Dieses lässt den Herd fünf- oder zehnmal so groß erscheinen, wie er in Wirklichkeit ist. Cortison wirkt nun wie Löschpapier, es saugt das Wasser aus dem Gewebe, und die Schwellung bildet sich in kurzer Zeit zurück, der Druck auf die Nervenfasern lässt nach, und die Symptome bessern sich. Aber das Wunder ist nur scheinbar, denn sie hätten sich auch – und zwar in gleichem Ausmaß – zurückgebildet, wenn du nichts getan hättest.“
„Aber kann der Druck nicht auf das umliegende Gewebe schädlich wirken?“
„Nein, in der Schädelkapsel bzw. im Rückenmarkskanal ist genügend Raum vorhanden, um auszuweichen. Sogar der Knochenkanal, durch den der Sehnerv von der Augenhöhle ins Schädelinnere eintritt, ist weit genug, so dass eine Sehnerventzündung mitten im Engpass niemals zu einer Strangulation des Nerven führt.“
„Du würdest also auch jemandem, der eine Sehnerventzündung hat, nicht mit Cortison behandeln?“
„Nein. Sieh mal, alles dreht sich doch um die Frage, ob das Umgebungsödem eine kluge oder eine falsche Reaktion des Körpers darstellt. Wir Ärzte unterschätzen oft die Natur und meinen, wir wüssten es besser. Aber in Wirklichkeit denkt sie sich doch etwas dabei, wenn sich die Gefäße im Entzündungsgebiet weiten, wenn sie durchlässiger werden, um ein wässriges Milieu zu schaffen, in dem die Abwehr- und Aufräumarbeiten am besten ablaufen können. Meiner Auffassung nach handelt es sich bei dem Umgebungsödem um eine vernünftige Reaktion des Körpers. Wenn man es vorzeitig zum Abklingen bringt, ist die Gefahr groß, dass die Entzündung nicht gründlich genug bekämpft wird, und dass es zu einer zu schnellen und minderwertigen Narbenbildung kommt.“
„Du meinst also, der Arzt pfuscht der Natur ins Handwerk?“, fragte Frauke zweifelnd. Irgendwie leuchtete ihr ja ein, was der freundliche weißhaarige Herr sagte – aber so ganz überzeugt war sie nicht.
10.2 Die Cortisontherapie ist wissenschaftlich umstritten
Ob man überhaupt mit Cortison behandeln sollte, bleibt aus vielen Gründen eine offene Frage. Unbestritten ist, dass die Schübe unter Cortison rascher abklingen und die beruflichen Ausfallzeiten herabgesetzt werden. Bedingt für Cortison sprechen die stimmungsaufhellende Wirkung des Medikaments und der psychologische Faktor, dass Arzt und Patient das Gefühl haben, dem Geschehen nicht tatenlos gegenüber zu stehen. Auf der anderen Seite stehen vier, teils schwerwiegende Gegenargumente:
- Solange unsicher ist, dass die MS tatsächlich eine Autoaggressionskrankheit ist, muss die Gabe von Cortison als problematisch gewertet werden.
- Die Rückbildung der Symptome erfolgt lediglich rascher, aber nicht besser bzw. vollständiger.
- Wenn es allein um die raschere Rückbildung der Schübe geht, dann ist dieser Effekt durch die Vielzahl erheblicher Nebenwirkungen zu teuer erkauft.
- Cortison beeinträchtigt möglicherweise die Heilungsvorgänge und leistet Reaktivierungen und evtl. sogar dem Übergang in das progrediente Stadium Vorschub.
Deshalb sollte in jedem einzelnen Fall der Einsatz von Cortison sorgfältig abgewogen werden.
10.3 Die Opticusneuritis-Studie von Beck
Wie sieht die Studienlage aus? Erstaunlicherweise lag bis Ende der 80er Jahre keine einzige Studie vor, die den Nutzen der Cortisontherapie belegte. Viele Ärzte waren der Ansicht, der offenkundige Effekt mache eine wissenschaftliche Bestätigung überflüssig. Andere blieben skeptisch und gründeten die Optic Neuritis Study Group, zu der Ärzte aus fünfzehn großen amerikanischen Kliniken gehörten.
Da die MS-Symptomatik so vielgestaltig ist und der Schub ein weiter Begriff ist, beschränkte sich die Studie auf den klassischen, unverwechselbaren MS-Schub, die Opticusneuritis, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Rückbildung der Symptome ophthalmoskopisch präzis zu erfassen ist. Insgesamt wurden 457 Patienten mit akuter Sehnervenentzündung in die Studie aufgenommen. Ein Drittel erhielt täglich 1000mg Methylprednisolon über 3 Tage als Infusion und danach eine orale Behandlung, ein weiteres Drittel wurde über 14 Tage mit 1mg Methylprednisolon pro kg Körpergewicht in Tablettenform behandelt. Das letzte Drittel bekam über 14 Tage ein Plazebo, also ein Scheinpräparat.
Die Studie hatte drei Ergebnisse:
- Unter Cortison bilden sich die Sehstörungen schneller zurück.
- Der Grad der Rückbildung war völlig unabhängig davon, ob die Patienten Cortison oder ein Scheinmedikament erhalten hatten.
- Bei den Patienten, die mit Cortisontabletten behandelt worden waren, kam es häufig zu einem Wiederaufflackern der Sehnervenentzündung auf demselben Auge.
Es gibt wenige Fakten in der MS-Forschung, aber seit der Optikusneuritis-Studie kann nicht mehr angezweifelt werden, dass das, was als Restsymptomatik nach einem Schub zurückbleibt, nichts damit zu tun hat, ob und wann der Schub mit Cortison behandelt worden ist. Darum sind die Cortisoninfusionen zur Behandlung der MS offiziell auch nicht zugelassen.
Es besteht also keinerlei Gefahr im Verzuge, und niemand braucht Angst zu haben, dass er sein Augenlicht riskiert, wenn er auf eine Cortisonbehandlung verzichtet. Im Gegenteil muss befürchtet werden, dass Cortison die Ausbildung der anfänglich erwähnten chronisch aktiven Herde fördert, indem es in den Ablauf der natürlichen Heilvorgänge eingreift und die Narbenbildung hemmt.
10.4 Kann Cortison auch schaden?
In dieselbe Richtung weist eine Studie, die an der Universität Göttingen durchgeführt wurde, und Anfang 2005 im Journal of Neuroscience erschien5. Ende der 90er Jahre war es der Arbeitsgruppe um Ricarda Diem gelungen, bei einer experimentell erzeugten akuten Sehnerventzündung von Ratten nicht nur eine Schädigung von Markscheiden, sondern auch eine Zerstörung von Nervenzellen nachzuweisen. Das machte pharmazeutische Firmen, die MS-Medikamente herstellen, sofort hellhörig. Wenn nämlich bei Ratten gezeigt werden könnte, dass der Nervenzelluntergang durch z.B. Betainterferone gebremst wird, dann wäre das zwar kein Beweis, aber ein überzeugender Hinweis auf die Wirksamkeit ihrer Präparate und würde die auf den Arbeiten von Bruce Trapp fußende Hypothese stützen, dass ein frühzeitiger Einsatz von Betainterferonen den Langzeitverlauf der MS günstig beeinflussen könnte (siehe später).
Als ersten Schritt (praktisch als Vorversuch) beschloss man, die Wirkung von Methylprednisolon auf die Sehnerventzündung zu untersuchen, weil hier rasche und eindeutige Aussagen zu erwarten waren.
Das Ergebnis war überraschend: Es zeigte sich, dass die Ratten, die mit Methylprednisolon behandelt worden waren, einen signifikant höheren Nervenzellverlust aufwiesen als die mit Kochsalz behandelten Kontrollen. Damit ist zum ersten Mal gezeigt worden, dass die Cortisonbehandlung des akuten MS-Schubes (zumindest im Tiermodell) schädlich sein kann.
10.5 Gibt es eine „sanfte“ Alternative zu Cortison?
Als Alternative zu Cortison wird die Enzymtherapie empfohlen. Sie ist wissenschaftlich aus drei Gründen umstritten:
- ist ihr Wirkungsmechanismus wenig überzeugend;
- ist es wahrscheinlich, dass die Enzyme als Eiweißkörper im Magen-Darm-Trakt zu einem großen Teil vor der Resorption zerstört werden; und
- ist es nicht gelungen, ihre Wirksamkeit in einer Doppelblindstudie nachzuweisen.
Trotzdem schwören viele Patienten darauf. Das gebräuchliche Therapieschema lautet:
- Phlogenzym® 3mal 3 Tabletten über 3 Tage,
- dann 3mal 2 Tabletten über 3 Tage und schließlich
- 3mal 1 Tablette über 3 Tage.
Phlogenzym® enthält 90mg Bromelaine (Ananasenzym) und 48 mg Trypsin (Pankreasenzym). Beide Enzyme habe eine sanfte Wirkung auf entzündliche Schwellungen, wobei das Trypsin besonders bei Fieber wirksam sein soll. Da dies bei der MS kaum eine Rolle spielt, empfehle ich als Alternative eine reine Bromelaine-Therapie, z.B. mit Mucozym®, das 180mg Bromelaine pro Tablette enthält. Wesentlich preisgünstiger ist Bromelain über das Internet zu beziehen, z.B. in der Internet-Apotheke www.disapo.de. Dort kosten 100 Tabl. à 200mg 8,05 €:
- Bromelain 200mg 3mal 3 Tabletten über 3 Tage,
- dann 3mal 2 Tabletten über 3 Tage und schließlich
- 3mal 1 Tablette über 3 Tage.
Ich werde häufig gefragt, ob man nicht Bromelaine in geringer Dosierung als Dauermedikation einnehmen sollte? Ich rate davon ab, weil sich die Wirkung aller Medikamente im Laufe der Zeit verschleißt.
5 Diem R et al. Methylprednisolone Increases Neuronal Apoptosis during Autoimmune CNS Inflammation by Inhibition of an Endogenous Neuroprotective Pathway. J Neuroscience 2005