Multiple Sklerose - kurz und bündig
11 Die Behandlung zwischen den Schüben – Muss ich mich spritzen?
1999 hat sich der Ärztliche Beirat der Deutschen MS-Gesellschaft (DMSG) mit der Österreichischen und Schweizerischen MS-Gesellschaft zur Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) zusammengeschlossen und gemeinsame Therapieempfehlungen für die MS erarbeitet. Das zugrundeliegende Prinzip lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Bei schubförmiger MS soll möglichst frühzeitig eine Dauertherapie mit Betainterferonen (Avonex®, Betaferon® und Rebif®) oder alternativ mit Glatirameracetat (Copaxone®) begonnen werden. Wenn sich die Krankheit dennoch verschlechtert, werden als zweite Stufe Mitoxantron und als letzter verzweifelter Versuch das Cyclophosphamid (Endoxan®) empfohlen.6 Viele Betroffene sind froh, weil es jetzt endlich etwas gibt, was man gegen die MS machen kann, für andere sind die täglichen, zweitäglichen oder wöchentlichen Spritzen ein Gräuel. Die meisten sind jedoch hin- und hergerissen: Sie wollen nichts unversucht lassen, um ihrer Krankheit Herr zu werden, andererseits zweifeln sie daran, dass ihnen die Spritzen wirklich helfen.
Abb.: Die immunmodulatorische Stufentherapie der MS |
11.1 Was sind Interferone?
Die Interferone gehören zur großen Gruppe der Zytokine. Was aber sind Zytokine? Zur Erklärung muss ich etwas weiter ausholen. Wir unterscheiden zwei Arten von Lymphozyten, die B- und die T-Lymphozyten. Während B-Lymphozyten Antikörper produzieren, produzieren T-Lymphozyten Zytokine. Antikörper haben die wichtige Aufgabe, sich zum Beispiel auf Fremdzellen zu setzen und sie auf diese Weise für Fresszellen (Makrophagen) schmackhaft zu machen. Zytokine setzen eine Stufe vorher an: Wenn ein T-Lymphozyt auf ein Virus stößt, dann sondert er ein Zytokin, z.B. Gammainterferon, ab, das weitere Lymphozyten und Makrophagen an den Ort des Geschehens lockt, und damit den Startschuss für die Abwehrreaktion setzt.
Zytokine sind also Botenstoffe, mit denen Immunzellen gemeinsame Aktionen untereinander abstimmen. Sie lassen sich vereinfacht in zwei Gruppen einteilen: Die einen sind entzündungsfördernd, die anderen entzündungshemmend. Während die entzündungsfördernden (Gammainterferon, Tumornekrosefaktor-alpha und die Interleukine IL-2, IL-6 und IL-12) den Entzündungsvorgang in Schwung bringen, passen die entzündungshemmenden (IL-10, möglicherweise auch die Betainterferone) auf, dass er nicht überhand nimmt.
Bei einer gelungenen Immunreaktion hängt alles davon ab, dass sich entzündungsfördernde und entzündungshemmende Zytokine in einer Balance befinden. Ist diese gestört, kommt es entweder zu einer ungenügenden Bekämpfung des Erregers oder zu einer chronischen Entzündung, also einem Weiterschwelen des Entzündungsprozesses, obwohl die Ursache längst beseitigt ist.
Welche Aufgaben die Betainterferone in diesem Geschehen haben, ist noch unklar. Es wird spekuliert, dass sie die entzündungsfördernde Wirkung des Gammainterferons hemmen. Im Grunde genommen ist dies jedoch nicht mehr als eine Ad-hoc-Erklärung, also eine Erklärung, die im Nachhinein konstruiert wurde. Die Geschichte dazu geht so: Als die Interferone entdeckt wurden, suchte man natürlich sofort nach Möglichkeiten, sie klinisch nutzbar zu machen. Die Hoffnungen, die man bei der Krebsbekämpfung auf sie setzte, zerschlugen sich rasch. Dann zeigte sich eher zufällig, dass Gammainterferon die Überlebenschancen von Versuchstieren mit einer EAE – Sie wissen, das Tiermodell der MS – verbesserte. Daraufhin wurde eine kleine Versuchsstudie mit MS-Kranken durchgeführt. Leider kam es hier zur genau entgegengesetzten Wirkung: 6 von 19 behandelten Patienten erlitten innerhalb eines Monats einen frischen Schub, worauf die Studie abgebrochen werden musste. Als sich später die Betainterferone bei der MS als wirksam erwiesen, war es naheliegend, in Ermanglung besserer Erklärungen anzunehmen, sie würden das Gammainterferon hemmen.
11.2 Es gibt zwei Betainterferone...
Es gibt nur ein menschliches Betainterferon, bei der gentechnischen Produktion werden jedoch zwei Betainterferone unterschieden:
- Betainterferon-1b (Betaferon®) wird mittels genetisch manipulierter E. coli-Bakterien hergestellt. Die Struktur dieser Substanz unterscheidet sich leicht von derjenigen des menschlichen Betainterferons, genauer gesagt, es ist nicht glykolisiert, d.h. ihm fehlt ein Zuckerrest.
- Für die Herstellung von Betainterferon-1a (Avonex®, Rebif®) werden Kulturen von Ovarialzellen des chinesischen Hamsters verwendet. Es ist hinsichtlich der molekularen Struktur mit dem natürlichen, vom Menschen produzierten Betainterferon identisch.
11.3 ... aber drei Betainterferon-Präparate.
Betaferon® (Schering) ist Betainterferon-1b und wird jeden zweiten Tag subkutan (unter die Haut) gespritzt, das entspricht 250 µg pro Woche. Avonex® (Biogen) ist Betainterferon-1a und wird einmal pro Woche intramuskulär gespritzt, das sind 30 µg (!) pro Woche. Bei Rebif® 22 bzw. 44 (Serono) handelt es sich ebenfalls um Betainterferon-1a, das dreimal pro Woche subkutan gespritzt wird, entsprechend 66 bzw. 132 µg pro Woche.
Abb.: Betainterferon-1b hat im Vergleich mit dem humanidentischen Betainterferon-1a eine leicht veränderte Molekülstruktur und soll (sagen Konkurrenzfirmen) deshalb schlechter löslich sein und zu „Verklumpungen“ neigen. |
11.4 Gibt es ein bestes Betainterferon?
Unter den drei Herstellerfirmen besteht natürlich ein heftiger Konkurrenzkampf, der aber in der Öffentlichkeit unter der Decke gehalten wird. Die Firma Schering reklamiert für ihr Betainterferon-1b, dass sie die überzeugendsten Studien vorgelegt hat. Im Gegenzug wird von den Firmen Biogen und Serono darauf verwiesen, dass Betainterferon-1b wegen des fehlenden Zuckerrestes schlechter wasserlöslich sei und dazu neige zu „verklumpen“. Dies sei auch der Grund, warum es deutlich höher dosiert werden müsse als Betainterferon-1a. Außerdem sei Betainterferon-1a, humanidentisch und führe deswegen zu einer geringeren Antikörperbildung. Bezüglich der Antikörperbildung behauptet die Firma Biogen (Biogen), dass Medikamente, die intramuskulär gegeben werden, weniger Antikörper erzeugen als Medikamente, die subkutan gespritzt werden, deshalb sei Avonex® nicht nur komfortabler, weil man es sich nur einmal pro Woche spritzen müsse, sondern auch Rebif® und Betaferon® überlegen. Schering und Serono parieren mit dem Argument, Avonex® sei mit der „Einmal-pro-Woche“-Dosierung eindeutig unterdosiert. Trotz der genannten Unterschiede geht die MSTKG in ihren Therapie-Leitlinien davon aus, dass zwischen den drei Betainterferonpräparaten keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bestehen.
11.5 Welche Nebenwirkungen haben die Betainterferone?
Die Betainterferone werden von den Herstellerfirmen als gut verträglich beschrieben. Das ist eine Beschönigung. Schon allein die zweitäglichen Injektionen unter die Haut (Betaferon®, Rebif®) oder die wöchentlichen intramuskulären Injektionen (Avonex®) sind nicht nur wegen der Überwindung, die es jeden Menschen kostet, sich in den eigenen Körper zu stechen, unangenehm. Hinzu kommen die grippeähnlichen Nebenwirkungen mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und Abgeschlagenheit, die Stunden und Tage anhalten können, und nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsfähigkeit einschränken. Weiterhin treten Reizungen und Verhärtungen an den Einstichstellen auf, und einige Patient(inn)en finden nach einigen Monaten nicht, keine gesunde Stelle mehr, an der sie sich spritzen können. Außerdem kann die Spastik zunehmen. Die zunehmende Praxis, in diesen Fällen sogenannte „MS-nurses“, die von den Herstellerfirmen ausgebildet und bezahlt werden, einzusetzen, ist durchaus kritisch zu sehen.
Bei der Aufklärung oft unerwähnt bleiben die Menstruationsstörungen, ebenso wie es meist unter den Tisch fällt, dass eine Frau unter der Behandlung mit Betainterferonen nicht schwanger werden darf. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Depressionen und die Persönlichkeitsveränderungen, die unter der Therapie auftreten können; ganz abgesehen davon, dass junge Menschen auf ihre Krankheit fixiert und ihr Leben durch den Terminplan der Spritzen beherrscht wird.
11.6 Wie wirksam sind die Betainterferone?
Auch wenn in großen klinischen Studien weitgehend übereinstimmend gezeigt werden konnte, dass die Betainterferone nicht nur die Schubfrequenz, sondern auch die Zahl neuer Herde um etwa ein Drittel senken, ist der Effekt im Praxisalltag kaum sichtbar. Wenn man die Betroffenen selbst fragt, ergibt sich etwa folgendes Bild: 1/6 sind überzeugt, dass ihnen die Medikamente helfen, 1/6 haben sie wegen der Nebenwirkungen wieder abgesetzt, und 2/3 sind sich unsicher, ob sie wirken und spritzen sich vorsichtshalber weiter. Ihren behandelnden Ärzten geht es ähnlich. Warum springt die Wirkung der Betainterferone so wenig ins Auge? Das hat einen einfachen Grund. Es ist gängige Praxis, dass Pharmafirmen die Ergebnisse von Studien, die dem Wirkungsnachweis der eigenen Medikamente dienen und die sie selbst bezahlt haben, zu „framen“, d.h. werbewirksam aufzuputzen.
Der häufigste Trick ist, die Resultate nicht in absoluten, sondern in relativen Werten anzugeben. Sehr gut lässt sich das am Beispiel der 1996 publizierten Avonex®-Studie zeigen.7 Unter der Behandlung mit Plazebo traten innerhalb von zwei Jahren 0,82 Schübe auf, in der mit Avonex® behandelten Gruppe 0,67 Schübe. Die Schubrate wurde also um 0,15 Schübe pro zwei Jahre reduziert. Das heißt: Ein MS-Patient muss sich 7mal 2 Jahre = 14 Jahre lang Avonex® spritzen, um einen einzigen Schub zu verhindern.
Jemand, der auf diese Weise aufgeklärt wird, würde sich wohl kaum auf eine Behandlung einlassen. Aber man kann dieselben Zahlen auch anders präsentieren: Ohne Avonex® treten 0,82 Schübe pro Jahr auf, das wird als 100% gesetzt. Mit Avonex® sind es nur 0,67 Schübe. 0,67 von 0,82 sind 73%, also reduziert Avonex® die Schubzahl um 27%. Sie werden zugeben, dass das wesentlich eindrucksvoller klingt.
Ein anderer Punkt ist, dass es sich bei der Schub- bzw. Herdreduktion um sogenannte Surrogatkriterien (Ersatzkriterien) handelt, d.h. sie messen etwas anderes als das, was die MS-Betroffenen in Wirklichkeit interessiert. Sie wollen in erster Linie wissen, ob durch die Betainterferone ihr Krankheitsverlauf gebremst und eine Langzeitbehinderung vermieden wird. Um dies jedoch festzustellen zu können, wären Studien von mindestens 10 Jahre Dauer notwendig - zu lange, um für die Hersteller von neuen Medikamenten akzeptabel zu sein. Denn die Konkurrenz schläft nicht, und selbst Studien, die nur 2 oder 3 Jahre dauern, kosten bereits um die 100 Millionen US-$. Man versucht also, die Studiendauer zu verkürzen, indem man nach Kriterien sucht, die gut messbar und einen verlässlichen Rückschluss auf den Langzeitverlauf ermöglichen. Dabei bieten sich Schübe und Herde geradezu an.
Allerdings hat diese Vorgehensweise gleich drei Haken: Zum einen ist - wie wir bereits gelernt haben - Schub nicht gleich Schub (d.h. „echte“ Schübe und Reaktivierungen werden gleichgesetzt), zum anderen Herd nicht gleich Herd (d.h. Schattenherde werden nicht von „schwarzen Löchern“ unterschieden), und drittens und vor allem: Es keinen überzeugenden Zusammenhang zwischen Herden und Schüben und dem Langzeitverlauf der MS!
Zu diesem überraschenden Ergebnis kam eine sorgfältig durchgeführte Studie des in Frankreich führenden MS-Epidemiologen Confavreux.8 Christian Confavreux verfügt in Lyon über eine der weltweit größten MS-Datenbanken, in der seit 1976 MS-Betroffene systematisch erfasst werden. Darunter befanden sich im Jahr 2000, also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Publikation 1562 MS-Patienten mit primär schubförmigem Beginn. Davon waren 1066 rein schubförmig geblieben, und 496 waren bereits in das sekundär progrediente Stadium (SPMS) eingetreten. Von diesen hatten 299 noch gelegentliche aufgesetzte Schübe (PRMS), 197 waren schubfrei. Confavreux verglich die Patienten mit Schüben mit denen ohne Schübe. Die Fragestellung war, inwieweit die Schübe einen Einfluss auf die Krankheitsprogression haben. Das Ergebnis: Die Krankheitsprogression von Patienten mit SPMS war unabhängig davon, ob sie weitere Schübe hatten oder nicht. Die Autoren schlossen: Wenn Medikamente die Schubzahl reduzieren, müssen sie nicht unbedingt auch die Krankheitsprogression verzögern.
ch schließe mit einem letzten Einwand gegen die Wirksamkeit der Betainterferone. Er fußt darauf, dass aufgrund der Nebenwirkungen, auf die ich gleich noch zu sprechen kommen werde, keine zuverlässige Verblindung in den Studien möglich war. Ein Großteil der Behandelten wusste also, ob sie sich Betainterferone oder Kochsalz spritzten. Dies könnte das Ergebnis im Sinne eines Riesenplaceboeffekts verfälscht haben.
11.7 Was spricht für die Betainterferone?
Befürworter der Betainterferone halten dagegen, dass sich die Therapie trotz aller Kritik in der Praxis bewährt habe, und allein darauf komme es an. Als Beleg verweisen sie auf die PRISMS-8-Studie. Dabei handelt es sich um eine offene Fortsetzung der PRISMS-Studie, in der Rebif® mit Plazebo verglichen wurde und die zur Zulassung des Präparats führte. Nach Abschluss von PRISMS wurde dem Teil der Patienten, die Plazebo erhalten hatten, angeboten, sich auf Betainterferone (vorwiegend Rebif®) einstellen zu lassen, und nach 6 Jahren Nachbeobachtungszeit wurde die Patienten , die insgesamt 8 Jahre Rebif® bekommen hatten, mit denen verglichen, die mit zwei Jahre Verzögerung mit der Behandlung begonnen hatten. Durch eine statistisch nicht unumstrittene Extrapolierung der Daten wurde berechnet, dass es bei einem mit Rebif® behandelten Patienten im Schnitt 5,9 Jahre dauert, bis sich sein EDSS-Score um einen Punkt verschlechtert, während dies bei Plazebopatienten bereits nach 2,9 Jahren der Fall ist.
Man sieht, dass die Argumentation etwas kompliziert ist. Abgesehen davon, dass es sich um eine unkontrollierte Studie handelte, in der nur ein Teil der anfänglichen Studienteilnehmer erfasst wurde, und die Verblindung unvollständig war, ist ein Vergleich mit der bereits erwähnten Olmstedt-County-Studie aufschlussreich: In dieser Studie, in der sich überwiegend unbehandelte Patienten befanden, betrug die Zeit, bis der EDSS um einen Punkt zunahm, 10 (!) Jahre. Es fällt übrigens immer wieder auf, dass die Vergleichspersonen in großen Studien unverhältnismäßig schlecht abschneiden. Das ist einer der Gründe, warum viele Ärzte bezweifeln, dass Studienergebnisse einfach auf die Patienten in ihrer Praxis zu übertragen sind.
11.6 Gibt es Langzeitrisiken?
Über Langzeitrisiken ist noch nichts bekannt, aber sie sind denkbar. Immerhin führen die Betainterferone zu einer Antikörperbildung, die nicht nur die Wirkung der gespitzten, sondern auch der körpereigenen Betainterferone, die unter anderem eine Rolle in der Krebsabwehr spielen, beeinträchtigt.
11.9 Betainterferone so früh wie möglich?
Bis vor kurzem war es nicht möglich, eine sichere MS aufgrund eines einzigen Schubes zu diagnostizieren, auch wenn andere Indizien (oligoklonale Banden im Liquor, Herde im Kernspintomogramm) die Diagnose mehr als wahrscheinlich machten. Aber der zweite Schub kann Jahre lang auf sich warten lassen. Um nicht wertvolle Zeit zu verlieren, wurden die bis vor kurzem Diagnose-Kriterien von Poser durch die McDonald-Kriterien ersetzt. Im Grunde genommen geht es nur darum, dass eine klinisch sichere MS jetzt auch dann diagnostiziert werden kann, wenn anstelle eines zweiten Schubes im Kernspintomogramm drei Monate nach dem ersten Schub ein oder mehrere neue Herde nachweisbar sind.
Warum, fragt man sich, dieser Zeitdruck? Das Argumentation bezieht sich auf die bereits besprochenen neuropathologischen Untersuchungen von Trapp und lautet so: Nicht nur in frischen Herden werden mehr Nervenfasern geschädigt, als früher angenommen wurde, sondern es kommt auch in alten Herden zu einem kontinuierlichen Axonverlust. Je mehr Herde also entstehen, desto mehr Nervenfasern gehen kurz- oder langfristig zugrunde, und umso früher wird die Erkrankung in den sekundär progredienten Verlauf einmünden. Da aber die Herdproduktionsrate in der frühen Erkrankungsphase am höchsten ist, ist eine Therapie, die hauptsächlich darauf abzielt, die Neuentstehung von Herden zu unterdrücken, am effektivsten, wenn sie so früh wie möglich einsetzt.
Soweit die Theorie der MSTKG. Die Einwände dagegen habe ich oben genannt. Auch konnte die Annahme bisher auch nicht in Studien belegt werden. Zu bemängeln ist zudem, dass in Therapieempfehlungen nicht differenziert zwischen den relativ gutartigen „weißen Flecken“, in denen der Axonuntergang gering oder nicht vorhanden ist, und den wesentlich aggressiveren „schwarzen Löchern“, die kernspintomographisch leicht voneinander zu unterscheiden sind.
11.10 Betainterferone aus Sicht der evidenzbasierten Medizin
Eine große Hilfe in der verwirrenden und widersprüchlichen, vor allem aber von der Pharmaindustrie beeinflussten Literatur über die MS-Therapie sind die Reviews, die in unregelmäßigen Abständen im New England Journal of Medicine erscheinen. zu den Betainterferonen schrieb der angesehene MS-Experte John Noseworthy: „Alle Betainterferone sind teuer und haben vielfache Nebenwirkungen. Ihre Langzeitwirkung ist nicht bewiesen und neue Studien beschäftigen sich kritisch mit der Kosten-Nutzen-Relation dieser Substanzen. Daten zur Langzeitwirkung und Sicherheit der Medikamente fehlen. Die Begeisterung für diese Behandlungsarten, egal ob sie gleich nach Diagnosestellung oder im weiteren Verlauf eingeleitet wurden, wird gedämpft durch die enttäuschende Realität, dass die meisten Patienten trotz der Behandlung weiter Schübe haben und schließlich doch zunehmend behindert werden.“9
Auch die Cochrane Collaboration kam 2004 nach einer Metaanalyse aller vorliegenden Betainterferon-Studien zu dem Schluss: „Die Wirksamkeit der Betainterferone auf Schübe und Krankheitsprogression bei Patienten mit schubförmig verlaufender MS war nach ein und zwei Behandlungsjahren mäßig. Eine längere Beobachtungsdauer und eine einheitlichere Darstellung der klinischen und kernspintomographischen Befunde hätten vielleicht eine überzeugendere Schlussfolgerung erlaubt.“10
Weitgehende Übereinstimmung besteht darüber, dass Betainterferone beim primär progredienten Verlauf nicht wirksam sind, auch ist ihre Wirksamkeit nach dem Übergang in das sekundär progrediente Stadium mehr als zweifelhaft.
11.11 Fazit
Ein Einsatz von immunmodulierenden Medikamenten ist erst dann zu erwägen, wenn sich Hinweise auf eine aggressivere Verlaufsform finden. Je mehr Zeit sich ein Arzt für Beratung und Aufklärung nimmt, je genauer er die Schübe analysiert („echter“ Schub oder Reaktivierung?), je mehr Mühe er sich gibt, die Krankengeschichte der MS aus der Lebensgeschichte zu interpretieren (Ist ein Schub unter belastenden Lebensumständen oder aus heiterem Himmel aufgetreten?) und je besser seine Kenntnisse in der Kernspintomographie sind (z.B. Unterscheidung von „weißen Flecken“ und „schwarzen Löchern“), desto seltener wird er eine Basistherapie für notwendig halten.
6 DMSG "Immunmodulatorische Stufentherapie" (Stand Oktober 2004)
7 LD Jacobs et al. Intramuscular interferon beta-1a for disease progression in relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol 1996;39:285-294
8 Confavreux, Christian et al. Relapses and progression of disability in multiple sclerosis. New England Journal of Medicine. 2000:343(20):1430-1438.
9 Noseworthy JH e.a. Medical progress - Multiple sclerosis (review article). N Engl J Med 2000;343:938-52.
10 Rice P PA e.a. Interferon in relapsing-remitting multiple sclerosis (Cochrane Review). In: The Cochrane Library; Issue 3, 2004